sozial-Recht

Verwaltungsgerichtshof

Kein individueller Anspruch auf barrierefreien Behördenzugang




Beschwerlicher Weg in einem Treppenhaus (Archivbild)
epd-bild/Stefan Trappe
Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Staaten, das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe zu gewährleisten. Ein direkter individueller Leistungsanspruch ergibt sich daraus aber nicht, entschied zuletzt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim.

Mannheim (epd). Behinderte Menschen sollen nach der UN-Behindertenrechtskonvention keine Bittsteller sein, sondern ein möglichst selbstbestimmtes, diskriminierungsfreies Leben führen können. Allerdings haben Betroffene auf Grundlage des völkerrechtlichen Vertrags keinen direkten individuellen Anspruch auf einen barrierefreien Zugang zu einem einzelnen Behördenhaus, entschied der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg in einem am 22. Februar veröffentlichten Beschluss. Die Mannheimer Richter wiesen damit einen Rollstuhlfahrer ab, der unter anderem mit Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention die Errichtung einer Rampe zu einem kommunalen Bezirksamt beanspruchte.

Behinderung als Bereicherung

Die am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete und von Deutschland am 24. Februar 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention betont, dass Menschenrechte auch für behinderte Menschen gelten müssen und Behinderung als Bereicherung der menschlichen Vielfalt angesehen werden muss. Staaten sind danach in der Pflicht, die Rechte der Betroffenen zu achten, zu gewährleisten und zu schützen. Dazu gehören etwa die Gewährleistung einer Nicht-Diskriminierung, Chancengleichheit und Inklusion.

Auch die Europäische Union hat den völkerrechtlichen Vertrag unterzeichnet. Das Institut für Menschenrechte in Berlin fördert und kontrolliert die Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Im aktuellen Rechtsstreit sah der Kläger die Konvention verletzt, weil er mit seinem Rollstuhl nicht alleine in die Räume eines Bezirksamtes gelangen konnte. Er werde in diskriminierender Weise von den dort angebotenen Dienstleistungen ausgeschlossen. Ihm stehe ein barrierefreier Zugang nach der UN-Behindertenrechtskonvention zu. Denn diese sei für deutsches und EU-Recht verbindlich.

Berufung auf Bundesverfassungsgericht

Die Kommune lehnte den Anspruch ab. Ein Umbau würde über 100.000 Euro kosten. Der Rollstuhlfahrer könne problemlos mit dem Auto oder dem öffentlichen Busverkehr das etwa fünf Kilometer entfernte barrierefreie Rathaus erreichen. Alternativ könnten Mitarbeiter des Bezirksamtes „auf Zuruf“ vor das Gebäude kommen, um dem Kläger Dokumente auszuhändigen, oder diese von ihm entgegennehmen.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart lehnte den Antrag des Mannes auf einen barrierefreien Zugang zum Bezirksamt ab. Der VGH wies den Antrag auf Zulassung der Berufung ebenfalls zurück.

Die UN-Behindertenrechtskonvention begründe keinen unmittelbaren Leistungsanspruch „auf die Schaffung eines barrierefreien Zugangs“. Die Konvention sei zwar nach deutschem und EU-Recht bindendes Recht. Letztlich würden darin „allgemeine Grundsätze“ festgelegt, um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und Teilhabe zu ermöglichen. Staaten müssten nur „geeignete Maßnahmen“ mit dem „Ziel“ gewährleisten, einen gleichberechtigten Zugang unter anderem zu Einrichtungen und Diensten zu schaffen.

Der Kläger lege nicht „ansatzweise“ dar, woraus sich ein direkter individueller Anspruch aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt und er nicht auf die Hilfe der Bezirksamt-Mitarbeiter zurückgreifen kann. Auch die Fahrt zum barrierefreien Rathaus sei zumutbar.

Der VGH verwies auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 2020. Danach führe die UN-Behindertenrechtskonvention nicht zu einem individuellen unmittelbaren Leistungsanspruch behinderter Menschen.

Mitnahme eines Blindenführhundes

Allerdings sei das maßgebliche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) im „Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention“ auszulegen, erklärten die Richter des Bundesverfassungsgerichts zum Streit, ob eine blinde Frau mit ihrem Blindenführhund trotz hygienischer Bedenken in eine Physiotherapiepraxis darf. Menschen mit Behinderungen dürfe „eine Teilhabe aus sachlichen Gründen“ nicht verwehrt werden, wenn Hindernisse mit zumutbaren Anstrengungen überwunden werden könnten, legten die Verfassungsrichter in ihrer Auslegung des AGG dar. Danach müsse der blinden Frau die Mitnahme ihres Blindenführhundes erlaubt werden.

Dass die Konvention als Auslegungshilfe bestehender Vorschriften dient, betonte zudem das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen mit Beschluss vom 4. Oktober 2021. Die Celler Richter sprachen einem Blinden einen Elektrorollstuhl auf Krankenkassenkosten zu.

Dabei verwies das LSG auf den im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention modernisierten Behinderungsbegriff. „Es ist die Aufgabe des Hilfsmittelrechtes, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen.“ Könne ein sehbehinderter Mensch einen Elektrorollstuhl verantwortungsbewusst nutzen, dürfe ihm dieser nicht verweigert werden.

Ausführungsgesetze erforderlich

Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel urteilte bereits am 6. März 2012, dass das in der UN-Behindertenrechtskonvention enthaltene Diskriminierungsverbot „unmittelbar anwendbares Recht“ sei. Doch dies sei „nicht hinreichend bestimmt und bedarf daher Ausführungsgesetzen“, sagte damals der frühere BSG-Präsident Peter Masuch. Im Streitfall wurde damit einem MS-Kranken mit Erektionsstörungen der Zugang zu potenzsteigernden Mitteln auf Krankenkassenkosten verwehrt. Weder das Grundgesetz noch die UN-Behindertenrechtskonvention verlangten „unverhältnismäßige oder unbillige Belastungen“, so das BSG.

Az.: 1 S 3107/21 (VGH Mannheim)

Az.: 2 BvR 1005/18 (Bundesverfassungsgericht)

Az.: L 16 KR 423/20 (LSG Niedersachsen-Bremen)

Az.: B 1 KR 10/11 R (Bundessozialgericht)

Frank Leth