Bremen (epd). Einfach oben in den Münzschlitz eines Zigarettenautomaten Geld einwerfen und dann die Packung rausziehen - das geht bei Nicole Dreifeld nicht mehr. „Das triggert mich, das ist so wie beim Glücksspiel: Oben Geld reinschmeißen, unten kommt das Suchtmittel raus“, beschreibt die 34-Jährige die Parallelen. Die Bremer Justizfachangestellte ist glücksspielsüchtig, aber seit rund vier Jahren „clean“, spielfrei - und mittlerweile Vorsitzende des noch jungen Bundesverbandes Selbsthilfe Glücksspielsucht. Ihr Weg in die Abstinenz war steinig, begleitet von Schulden, Lügen und Verzweiflung.
Begonnen hat bei Nicole Dreifeld alles mit einem Job als Spielhallenaufsicht: die „Spielo“ aufschließen, den Gästen Kaffee servieren, für gute Stimmung sorgen, aufräumen. Irgendwann schmeißt sie dann beim Putzen zwei Euro in einen Automaten, Trinkgeld. „Ich habe nicht mal vor dem Gerät gesessen“, erinnert sie sich. Als sie wieder auf das bunte Display schaut, stehen da plötzlich 54 Euro. Der Gewinn war für die junge Frau der erste Schritt in die Sucht. „Wer Pech hat, hat am Anfang Glück“, blickt sie heute zurück.
Aktuelle Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) belegen, dass rund 430.000 Menschen in Deutschland von einem problematischen Glücksspielverhalten oder einer Glücksspielsucht betroffen sind. „Es fängt damit an, dass du dich selbst anlügst: Ich hab' doch kein Problem, ich mach das nur, um mir die Zeit zu vertreiben“, erzählt Dreifeld. „Und dann, wenn es mehr wird, sagst du dir, ich hab da jetzt so viel Geld reingesteckt, das Ding muss doch gleich mal was Großes schmeißen.“ In Wirklichkeit aber gibt es im Glücksspiel nur zwei Gewinner: die Anbieter und den Staat, über jährlich beträchtliche Steuereinnahmen.
Bei Nicole Dreifeld werden mit der Zeit die Einsätze immer höher, die Schulden häufen sich. „Die Spielhalle war für mich eine Flucht vor den Sorgen des Alltags.“ Doch am Ende verspielt sie mehr als 30.000 Euro. Um ihre Sucht zu verdecken, belügt sie ihre Familie, erfindet Alibis. „Ich habe gesagt, ich will was einkaufen, ich hab mich verquatscht, die Schlange an der Kasse war so lang.“ Damit niemand sieht, wo sie ist, parkt sie ihr Auto in der Nebenstraße, schaltet die Ortung am Handy aus.
Besonders gefährlich sind Online-Spiele, für die mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag vom 1. Juli vergangenen Jahres legale Lizenzen für ganz Deutschland erworben werden können. „Je schneller ein Spiel ist, desto gefährlicher ist es auch“, erläutert der Bremer Psychologe und Glücksspielforscher Tobias Hayer. „Entscheidungen im Sekundentakt bedeuten, dass der Spielende in eine Art Trancezustand geraten kann, dass er sich beim Zocken und den damit verbundenen Emotionen in Raum und Zeit verliert.“
Das Suchtpotenzial von Online-Glücksspielen sei außerdem erhöht, weil sie fast immer und überall verfügbar seien: Sie könnten zu jeder Tages- und Nachtzeit am Smartphone, Tablet oder PC gespielt werden.
Hinzu kommen Gefahren durch die Anonymität im Netz und die virtuellen Geldeinsätze, warnt Michaela Goecke, Leiterin des Referates für Suchtprävention der BZgA: „Dadurch können sich Verluste schnell unkontrolliert erhöhen und in eine Schuldenfalle führen.“ Die Bremer Sozialarbeiterin Gisela Koning-Hamers, die glücksspielsüchtigen Menschen und ihren Angehörigen Unterstützung anbietet, kennt das aus der Praxis: „2020 benannte bereits jede fünfte hilfesuchende Person Sportwetten im Internet als problemverursachende Glücksspielform, Tendenz steigend.“
Eine Glücksspielsucht sei keine persönliche Schwäche, sondern eine Krankheit, die sich meist schleichend und von den Betroffenen fast unbemerkt entwickele, mahnt Goecke. So war es auch bei Nicole Dreifeld. Selbst die Kündigung in der Spielhalle habe da am Ende nicht mehr geholfen. „Fast hätte ich mein Leben verzockt, ich habe mich so geschämt“, sagt sie.
Dann die Wende: Sie bekommt Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe, die sie mittlerweile leitet. Der erste Weg zur Gruppensitzung fällt ihr schwer: „Das war, als ob ich zu meiner eigenen Hinrichtung müsste.“ Im November vergangenen Jahres gründet Dreifeld zusammen mit anderen Aktivisten den Bundesverband Selbsthilfe Glücksspielsucht. „Wir wollen mehr Menschen über die Gefahren der Glücksspielsucht aufklären und gleichzeitig zeigen, dass es einen Weg raus aus der Sucht gibt.“
Dabei unterstützt nach Darstellung des Glücksspielforschers Hayer ein differenziertes Hilfesystem, das von der ambulanten Suchtberatung über stationäre Fachkliniken bis zu online-gestützten niedrigschwelligen Hilfen und Telefon-Hotlines reicht. „Eine weitere zentrale Säule ist die Selbsthilfe“, betont Hayer.
Für Nicole Dreifeld steht fest: „Die Selbsthilfe ist der einzige Grund, warum ich aufgehört habe zu zocken.“ Bundesweit gebe es etwa 150 Gruppen. „Wir haben aber noch viele weiße Flecken, besonders auf dem Land“, sagt sie. Der Bundesverband wolle das Hilfe-Netzwerk enger knüpfen. „Und das“, betont Nicole Dreifeld, „ist mit dem Boom im Internet auch dringend nötig: Die Neuzugänge in meiner Selbsthilfegruppe sind alles Online-Spieler.“