sozial-Politik

Glücksspielsucht

Interview

"Eine Art Trancezustand"




Tobias Hayer
epd-bild/Dieter Sell
Der Bremer Forscher Tobias Hayer kritisiert den neuen Glücksspielstaatsvertrag. Er habe alle Formen des Online-Glücksspiels legalisiert. Hier seien aber die Suchtgefahren besonders groß.

Bremen (epd). Glücksspielsucht hat nichts mit einer moralischen Schwäche oder einem Persönlichkeitsdefizit zu tun - „das ist eine psychische Erkrankung“, stellt der Bremer Psychologe und Glücksspielsuchtforscher Tobias Hayer im Interview klar. Je höher die Spielgeschwindigkeit, desto größer sei die Suchtgefahr. Der Experte warnt im Gespräch mit Dieter Sell besonders vor Online-Glücksspielen.

epd sozial: Warum werden Menschen überhaupt süchtig nach Glücksspiel?

Tobias Hayer: Die Entwicklung einer Sucht ist immer ein komplexer Prozess, Risikofaktoren gibt es auf drei Ebenen. Nehmen wir zunächst das Glücksspiel selbst. Hier gilt verkürzt die Daumenregel: Je schneller ein Spiel ist, desto gefährlicher ist es auch. Entscheidungen im Sekundentakt bedeuten, dass der Spielende in eine Art Trancezustand geraten kann, dass er sich beim Zocken und den damit verbundenen Emotionen in Raum und Zeit verliert.

Dann gibt es Risikofaktoren, die die Person betreffen. Wir wissen beispielsweise, dass glücksspielsüchtige Menschen in der Regel impulsiver agieren und auf schnelle Bedürfnisbefriedigung aus sind. Planung, Belohnungsaufschub und Handlungskontrolle erweisen sich als eher schwach ausgeprägt. Und sie haben oft Probleme, angemessen mit Stresssituationen umzugehen. Schließlich haben wir den großen Kontext, der über die einzelne Person hinausführt: In einer Gesellschaft, in der das Glücksspiel gefördert wird - Stichworte Verfügbarkeit und Werbung -, da gibt es auch eher Berührungspunkte mit dem Glücksspiel.

epd: Vor diesem Hintergrund müsste das Online-Glücksspiel die Problemlagen noch zuspitzen ...

Hayer: Absolut. Trifft eine hohe Spielgeschwindigkeit auch noch auf eine hohe Verfügbarkeit, gehen wir von hohen Suchtgefahren aus - das trifft auf das Internet-Glücksspiel par excellence zu. Hier gibt es ein Spielangebot, das an jedem Tag rund um die Uhr an jedem Ort über ein mobiles Endgerät verfügbar ist. Deswegen kritisieren wir auch den neuen Glücksspielstaatsvertrag, der alle Formen des Online-Glücksspiels mit den damit verbundenen Spielanreizen und Suchtgefahren legalisiert hat.

epd: Spielen bei der Sucht Geschlecht und Alter eine Rolle?

Hayer: Wir haben Bevölkerungsstudien, die das ziemlich klar zeigen. Glücksspielsüchtige Personen sind eher männlich und eher jünger. Das wird auch noch befördert durch die Digitalisierung - Online-Glücksspiel zieht vor allem jüngere Personen an. Weitere Risikogruppen umfassen Menschen mit einem Migrationshintergrund. Und Kinder, die mit einem glücksspielsüchtigen Elternteil aufwachsen, die ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko haben, später selbst exzessiv zu zocken.

Erste Studienbefunde verweisen zudem auf weitere vulnerable Gruppen wie beispielsweise im Sportwettenbereich Mitglieder von Sportvereinen. Das gilt sowohl für den Breiten- als auch für den Leistungssport. Außerdem sind Personen, die bei den Glücksspielanbietern arbeiten, speziell Servicekräfte in Spielhallen, besonders gefährdet.

epd: Wer kann helfen?

Hayer: Wir haben in Deutschland mittlerweile ein differenziertes professionelles Hilfesystem für Betroffene und für Angehörige. Das reicht von klassischen Angeboten in der ambulanten Suchtberatung über stationäre Fachkliniken bis zu online-gestützten niedrigschwelligen Hilfen und Telefon-Hotlines.

Eine weitere zentrale Säule ist die Selbsthilfe, weil sie da die Expertinnen und Experten treffen, die sich gegenseitig austauschen und unterstützen können. Das ist Gold wert, weil die Menschen dort die Erfahrung machen, 'Hey, ich bin nicht der Einzige, der an dieser Erkrankung leidet'. Und sich austauschen können: Wie bin ich da überhaupt reingeraten? Wie kann ich da wieder rauskommen? Wie kann ich einem Rückfall vorbeugen? Das entlastet und unterstützt.

epd: Gibt es Erkenntnisse, wie viele glücksspielsüchtige Menschen den Absprung schaffen?

Hayer: Ja, dieser Anteil ist sicher noch ausbaufähig. Wir wissen, dass etwa 10 bis 15 Prozent der Betroffenen überhaupt den Weg in das professionelle Suchthilfesystem finden. An dieser Stelle muss noch viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden. Das fängt mit dem zentralen Hinweis an, dass die Glücksspielsucht eine psychische Erkrankung ist und eben keine moralische Schwäche und auch kein Persönlichkeitsdefizit. Die Betroffenen machen das nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil sie krank sind.

Übrigens lebt etwa ein Drittel der Personen, die im Suchthilfesystem vorstellig geworden sind, dauerhaft glücksspielfrei, also abstinent. Bei einem weiteren Drittel gibt es trotz gelegentlicher Rückfälle deutliche Verbesserungen auf psychosozialer und finanzieller Ebene. Und dann gibt es etwa ein Drittel, das trotz mehrfacher Versuche den Absprung leider nicht schafft.

epd: Gibt es Voraussetzungen für eine möglichst erfolgreiche Hilfe?

Hayer: Indem die Glücksspielaktivitäten reduziert und bestenfalls auf null geschraubt werden. Und je früher Hilfe in Anspruch genommen wird, desto wahrscheinlicher ist der Weg zurück. Anders ausgedrückt: Je weiter sich die Abwärtsspirale, auch finanziell, gedreht hat, desto schwieriger ist der Ausstieg. Eine ehrliche Bestandsaufnahme, Krankheitseinsicht und eine gewisse Änderungsbereitschaft sind Grundvoraussetzungen für den Genesungsprozess.

Ebenfalls wichtig sind die Angehörigen, auch sie benötigen oftmals Aufklärung, Entlastung und Beratung. Denn als Ehepartner oder Ehepartnerin sehen sie in der Regel nicht, dass eine Person gerade dabei ist, sich und die Familie zu ruinieren. Es gibt ja keine Einstichstellen am Körper, keinen torkelnden Gang, keine Pupillenveränderung. Oftmals führt die glücksspielsüchtige Person über Jahre eine Art Doppelleben. Und jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, plötzlich vor dem finanziellen und emotionalen Ruin zu stehen.



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