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Corona

"Es gibt nur mich, Emma und die Straße"




Corinna Merkel aus Hannover mit ihrer Suzuki
epd-bild/Karen Miether
Wenn Kontakte reduziert sind und Freizeitmöglichkeiten entfallen, warum dann überhaupt aus dem Haus gehen? Corinna Merkel kämpft noch mehr als sonst gegen Antriebslosigkeit in ihrer Depression. Doch auf dem Motorrad bekommt sie den Kopf frei.

Hannover (epd). Corinna Merkel steigt auf den Sattel ihrer Suzuki und rollt die Maschine rückwärts langsam aus der Garage. „Das ist Emma“, sagt sie, bevor sie den Helm über ihre Locken stülpt. „In die hab ich mich schockverliebt. Mir war gleich klar, dass sie so heißt.“ Bei Motorradtouren rund um ihren Wohnort Hannover bekomme sie den Kopf frei, sagt die 43-Jährige. Sie hat Depressionen, und die Corona-Pandemie hat es für sie noch schwerer gemacht, mit der Krankheit umzugehen.

Kürzere Lebenserwartung

Die Corona-Maßnahmen haben bei hochgerechnet mehr als zwei Millionen depressiv Erkrankten zu einer Verschlechterung von Krankheitsverläufen geführt. Das ergab eine repräsentative Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Von einer „stillen Katastrophe“ spricht der Stiftungsvorsitzende Ulrich Hegerl. Zu den Gründen zählt laut dem „Deutschland Barometer Depression“ der Stiftung eine schlechtere medizinische Versorgung. Stationäre Behandlungen wurden abgesagt, Therapietermine fielen aus. „Wenn Sie die Diagnose Depression haben, leben Sie im Schnitt zehn Jahre weniger“, mahnt Hegerl. „Das ist eine schwere und lebensbedrohliche Erkrankung.“ Das werde noch zu wenig gesehen.

Auch Corinna Merkel war mitten in einer Therapie in der Medizinischen Hochschule Hannover, als im März 2020 ihre Station geschlossen werden musste, um Betten für mögliche Corona-Patienten frei zu haben. Zwei Tage vorher erfuhr sie davon. „Es war therapeutisch gerade ganz viel angestoßen worden. Ganz viel war wachgerüttelt, und ich wusste nicht wohin damit“, erzählt sie. „Es war wie eine Operation am offenen Herzen. Wie wenn der Brustkorb geöffnet ist, und der Patient wird nach Hause geschickt. So fühlt es sich an.“

Mitarbeitende eines ambulanten psychiatrischen Pflegedienstes kamen dann regelmäßig zu ihr und ihrem Mann ins Haus, nur so fand sie in eine Tagesstruktur. Auch bei der Suche nach einem Therapeuten war sie erfolgreich. „Morgens um neun Uhr fertig bereit zu stehen, ist eine Qual“, beschreibt sie Symptome. Sie spricht von Erschöpfung, tiefer Hoffnungslosigkeit und Suizidgedanken. Dass die Corona-Regeln Treffen mit Freundinnen schwer machten und es kaum Freizeitangebote gab, verschlimmerte alles noch. „Das hat der Antriebslosigkeit Feuer gegeben.“

Rückzug in die eigenen vier Wände

Insgesamt haben sich nach der Studie der Stiftung Deutsche Depressionshilfe eine Mehrzahl der Menschen in einer depressiven Krankheitsphase durch den erzwungenen Rückzug in die eigenen vier Wände weniger bewegt. Sie zogen sich vermehrt ins Bett zurück, grübelten und hatten es schwer, den Tag zu strukturieren. „Von diesen drei Faktoren ist gut bekannt, dass sie ganz spezifisch bei einer Depression den Krankheitsverlauf verschlechtern“, sagt Hegerl. Er warnt vor langfristigen Folgen.

Noch immer sei im alltäglichen Miteinander vieles ja nicht normal, sagt Corinna Merkel. Sich in einer solchen Situation Mut zu machen, sei ihr kaum möglich. Und doch fasste sie während der Pandemie den Entschluss, den Motorrad-Führerschein zu machen. Erst waren auch die Fahrschulen noch geschlossen. Doch dann war es schließlich so weit. „Da ist ein Riesentraum in Erfüllung gegangen.“ Wenn sie wie an diesem Tag eine Runde auf ihrer Emma dreht, fühlt sie sich einen Moment frei von Belastungen, erzählt sie mit einem Lächeln. „Es gibt nur mich, Emma und die Straße. Der Kopf hat mal Pause.“

Kampf um eine Erwerbsminderungsrente

Während des Studiums ist bei Corinna Merkel das erste Mal eine depressive Episode diagnostiziert worden. Seitdem begleitet sie die Krankheit in kürzer werdenden Abständen. Seit zwei Jahren ist die Architektin arbeitsunfähig. Sie kämpft aktuell im Widerspruchverfahren um eine Erwerbsminderungsrente. Dabei hoffe sie noch darauf, wieder arbeiten zu können, sagt sie. Doch den Weg dahin wolle sie ohne äußeren Druck gehen.

„An Depressionen erkrankt zu sein, heißt nicht, 24 Stunden in der Ecke zu sitzen“, betont sie. „Das ist ein Klischeebild.“ Es handle sich zwar um eine schwere Krankheit, aber eben um eine Krankheit und um keine Charakterschwäche. An diesem Tag ist sie über Landstraßen und Feldwege gefahren. „Ich spüre mich dann mit all meinen Fasern.“ Das Motorrad ist am Ende voller Schlamm. Und Corinna Merkel wärmt sich an einem Becher Tee die durchgefrorenen Hände, ganz dicht am Ofen, den ihr Mann vorsorglich angeheizt hat.

Karen Miether


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