sozial-Politik

Corona

Interview

Experte: Depressionen werden in der Pandemie unzureichend behandelt




Ulrich Hegerl
epd-bild/Katrin Lorenz
Auch im zweiten Jahr der Pandemie haben sich mehr Erwerbstätige wegen Depressionen krank gemeldet als in früheren Jahren. Der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Ulrich Hegerl, sieht darin ein gutes Zeichen.

Frankfurt a.M. (epd). Die Statistiken der Krankenkassen zu den Fehlzeiten im Jahr 2021 lassen vermuten, dass unter Corona-Bedingungen mehr Menschen als sonst in eine psychische Krise geraten. Studien der Stiftung Deutsche Depressionshilfe weisen allerdings in eine andere Richtung. Der Stiftungsvorsitzende und Professor an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Ulrich Hegerl, beklagt im Interview jedoch eine deutliche Verschlechterung der ärztlichen Versorgung psychisch Kranker in der Pandemie. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: Die Zahl der Fehlzeiten in den Unternehmen wegen psychischer Erkrankungen nimmt seit Jahren zu. Warum ist das so?

Ulrich Hegerl: Die Statistiken der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger zeigen eine sehr deutliche Zunahme an Arbeitsunfähigkeitstagen und Frühberentungen wegen Depression. Hinter dieser Zunahme in den Statistiken dürfte die sehr wünschenswerte Entwicklung stehen, dass sich mehr Erkrankte professionelle Hilfe holen und Ärzte Depressionen besser erkennen und behandeln. Eine Rolle spielt auch, dass Depressionen heute auch Depressionen genannt und nicht mehr so oft hinter weniger negativ besetzten Ausweichdiagnosen wie chronischer Rückenschmerz, Tinnitus, Kopfschmerz etc. versteckt werden. Aus bevölkerungsbasierten Studien wissen wir, dass Depressionen nicht wesentlich häufiger geworden sind.

epd: Welchen Einfluss hat hier die Corona-Pandemie?

Hegerl: Die Pandemie und die Maßnahmen dagegen sind zweifellos für viele Menschen eine Quelle von Stress, Sorgen, gedrückter Stimmung und Ängsten. Das sind jedoch normale Reaktionen auf die schwierigen Lebensumstände, die in der Regel nicht zu einer depressiven Erkrankung führen. Bei den repräsentativen Bevölkerungsbefragungen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe war der Anteil der befragten Erwachsenen, der angab, dass bei ihnen schon mal eine Depression diagnostiziert worden sei, vor und während der Pandemie wenig verändert bei zirka 20 Prozent.

Bei Menschen die bereits irgendwann an einer Depression erkrankt waren und damit eine Veranlagung zu Depressionen haben, ist die Situation jedoch eine völlig andere. Hier wirken sich die Maßnahmen gegen Corona äußerst negativ aus.

epd: Wie stark wird die Entwicklung der Depressionen im vergangenen Jahr von den besonderen Arbeits-und Lebensbedingungen in der Pandemie beeinflusst?

Hegerl: Sehr viele Menschen glauben ja, dass die Depression vor allem eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände sei, z.B. einer Belastung am Arbeitsplatz. Depressionen sind jedoch recht eigenständige Erkrankungen, die bei Menschen mit entsprechender Veranlagung meist mehrfach im Leben auftreten. In der Depression fühlen sich alle Menschen völlig erschöpft und überfordert, sodass sehr oft fälschlicherweise die Arbeit als Ursache angesehen wird. Diese Fehleinschätzung kann zu falschen Lebensentscheidungen führen, z.B. zu einer Frühberentung oder zum Wechsel in einen weniger belastenden Beruf. Doch dann werden diese Menschen wieder depressiv, da die Arbeitsbelastung eben nicht die Ursache war, und nun sind sie vielleicht in einem weniger interessanten und schlechter bezahlten Beruf, ohne gesundheitlich etwas gewonnen zu haben.

epd: Haben die äußeren Umstände - wie etwa soziale Isolation, weniger Freizeitmöglichkeiten, Arbeiten im Homeoffice, Angst vor Covid-19-Infektionen und mehr - etwa keinen Einfluss?

Hegerl: Viele Menschen mit Depression berichten über weniger Bewegung, eine schlechtere Tagesstrukturierung mit vermehrtem Grübeln und Rückzug ins Bett, oft auch tagsüber. Das sind drei Veränderungen, von denen gut bekannt ist, dass sie ganz spezifisch bei Depressionen den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Sport hat eine antidepressive Wirkung. Längere Bettzeiten und Schlaf führen dagegen nicht zu Erholung, sondern meist zu einer Verschlechterung der Depression. Schlafentzug, d.h. das Wachbleiben in der zweiten Nachthälfte, ist eine kurzfristig sehr wirksame, in Kliniken angebotene Behandlung.

Ein weiterer Aspekt ist die Verschlechterung der medizinischen Versorgungsqualität. Beim letzten Deutschland-Barometer Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe im September 2021 berichteten darüber 48 Prozent der sich in einer depressiven Phase befindlichen Betroffenen. Stationäre und ambulante Behandlungen seien abgesagt worden, Selbsthilfegruppen seien ausgefallen.

epd: Welche individuellen Dispositionen lassen Menschen eher depressiv werden als andere?

Hegerl: Ob jemand in eine Erkrankung rutscht oder nicht, dafür ist die Veranlagung entscheidend. Diese kann vererbt oder auch erworben sein, z.B. durch Traumatisierungen und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, Wenn man das Pech hat, eine solche Veranlagung zu haben, dann wird man immer wieder in diesen Zustand rutschen. Das betrifft dann auch Menschen, die von außen betrachtet gar keinen Grund für eine Depression zu haben scheinen. Und wenn man die Veranlagung nicht hat, dann überstehen Menschen sehr oft ganz große Bitternisse des Lebens, ohne deswegen in eine eigenständige Erkrankung Depression zu rutschen. Die äußeren Faktoren sind nicht ganz unwichtig. Sie können bei Menschen mit einer derartigen Veranlagung ein Trigger für eine Depression sein. Aber ihre Bedeutung wird in der Regel überschätzt.

epd: Wie können Menschen eine nahende Depression frühzeitig erkennen?

Hegerl: Um von einer echten Depression zu sprechen, müssen mehrere Krankheitszeichen über mindestens zwei Wochen vorliegen. Dazu zählen eine gedrückte Stimmung, Interessen- und Freudlosigkeit, ein permanentes Erschöpfungsgefühl, die Neigung zu Schuldgefühlen, hartnäckige Schlaf- und Appetitstörungen und das Gefühl der Ausweglosigkeit. Hinzu kommen meist permanente Ängste vor allen auch kleinen Anforderungen und der Zukunft, verbunden mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit. Viele berichten auch, sich permanent angespannt wie vor einer Prüfung zu fühlen und innerlich wie versteinert. Wie bei allen schweren Krankheiten sollten Betroffene und Angehörige so schnell wie möglich ärztliche Hilfe einholen.

epd: Inwieweit müssen Pandemiemaßnahmen mit Blick auf psychische Erkrankungen überdacht und korrigiert werden?

Hegerl: Noch einmal: Depression ist eine ziemlich eigenständige Erkrankung, und Menschen ohne eine Veranlagung zu Depression werden auch in Pandemiezeiten keine Depression bekommen. Die Tatsache aber, dass durch die Maßnahmen gegen Corona hochgerechnet etwa zwei Millionen depressiv erkrankte Menschen eine Verschlechterung ihres Krankheitsverlaufs berichten, ist eine stille Katastrophe. Mein Eindruck ist, dass die negativen Folgen der Maßnahmen, was psychische Erkrankungen aber auch andere Bereiche der Medizin angeht, nicht mit ausreichender Sorgfalt und Systematik erhoben, ausgewertet und berücksichtigt werden. Es ist aber unerlässlich, negative Folgen getroffener Maßnahmen genauestens zu erfassen, da nur so das Verhältnis zwischen verhindertem und verursachtem Leid optimiert werden kann.



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