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Corona

"In der Behindertenhilfe ist die Belastungsgrenze erreicht"




Barbara Heuerding
epd-bild/privat
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht soll am 16. März kommen. Sie versetzt die Träger der Behindertenhilfe in Unruhe - in einer ohnehin angespannten Lage. Viele Fragen seien ungeklärt, sagt Barbara Heuerding, Geschäftsführerin des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe, im Interview.

Berlin (epd). Die Behindertenhilfe beklagt eine hohe Zusatzbelastung und viel Unklarheit durch die bevorstehende Impfpflicht für die Beschäftigten der Sozialbranche. „In den Einrichtungen wird mit erheblichem Kommunikationsaufwand fürs Impfen geworden“, sagt die Geschäftsführerin des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe (BeB), Barbara Heuerding. Das geschehe in einer Situation, in der nach zwei Jahren Corona-Pandemie „fast alle extrem müde und ausgelaugt“ seien. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: Wie sind die aktuellen Arbeitsbedingungen in der Behindertenhilfe? Kommt es zu vielen Personalausfällen in der Omikronwelle, ist der Krankenstand überdurchschnittlich hoch?

Barbara Heuerding: Nachdem in den letzten beiden Jahren die Personaldecke wegen Nachwuchsmangels und Pensionierungen von starken Jahrgängen bereits extrem dünn geworden ist (auch wegen großer Probleme beim internationalen Recruiting), sorgen ein stark steigender Krankenstand und Quarantäneauflagen im Moment dafür, dass vielerorts der Betrieb nicht mehr in Übereinstimmung mit den Standards erfolgen kann. Bei einigen Angeboten wissen die Leistungserbringer wegen der hohen Anzahl positiv getesteter Klienten und Mitarbeiterinnen nicht mehr, wie sie den Betrieb aufrechterhalten können. Dort ist die Belastungsgrenze erreicht.

epd: Wie wirkt sich das konkret aus?

Heuerding: Bei vielen Angeboten muss jeden Tag wegen der Erkrankung umdisponiert werden, weil ständig die Dienstpläne verändert und neue Verordnungen umgesetzt werden müssen. In Nordrhein-Westfalen waren es rund 210 Verordnungen und Allgemeinverfügungen seit Beginn der Pandemie. Hinzu kommt der enorme Dokumentationsaufwand für die Refinanzierung der durchgeführten Antigentests, die durch die Einrichtungen selber durchgeführt werden.

epd: Inwieweit können die Einrichtungen und Dienste in der ambulanten Behindertenhilfe, den Wohngruppen, den Förderschulen und Werkstätten ihre Leistungen weiter anbieten?

Heuerding: Die Leistungen werden bestmöglich aufrechterhalten, allerdings mit Abstrichen bei der erreichbaren Qualität zu Lasten der sozialen Teilhabe und der Einhaltung der Fachkraftquote. In manchen Wohngruppen sind Bewohnerinnen und Mitarbeiter gemeinsam in Quarantäne. In inklusiven Kindergärten und Schulen gibt es einen sehr hohen Krankenstand. Leider gibt es gerade bei vielen niedrigschwelligen Angeboten (Familienentlastende Dienste, Freizeitangebote etc.) Angebotseinschränkungen.

epd: Sind Eltern behinderter Kinder aufgrund der Omikronwelle derzeit stärker belastet in den vergangenen zwei Jahren?

Heuerding: Das ist sicher in den verschiedenen Hilfefeldern unterschiedlich, aber die Belastungen steigen, da gerade viele familienentlastende Angebote eingeschränkt sind. Viele Angehörige sorgen sich vor allem vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus, wenn sie risikoerkrankte Kinder haben. Einige fühlen sich allein gelassen, weil Kinder mit Behinderung nicht im Fokus der Politik sind. Trotz allem gibt es eine ungebrochen hohe Hilfsbereitschaft bei den Angehörigen von Kindern mit Behinderung gegenüber den Assistenzkräften und Diensten.

epd: Sehen Sie Erschöpfungssymptome in einzelnen Bereichen der Behindertenhilfe?

Heuerding: Ja, die sind unverkennbar auf breiter Front zu beobachten. Gab es am Anfang eine hohe Motivation, die Herausforderung Corona zum Beispiel durch selbst hergestellte Schutzkleidung und flexiblen Einsatz des Personals zu bewältigen, sind jetzt fast alle extrem müde und ausgelaugt.

epd: Wie wird den Belastungen begegnet?

Heuerding: Hier sind derzeit besonders die jeweiligen Vorgesetzten gefordert, da für finanzielle Benefits keine Budgets vorhanden sind sowie zeitliche Entlastung und emotionsförderliche Events unter Corona-Bedingungen nicht möglich sind. Es werden alle Anstrengungen unternommen, um Synergieeffekte zu erzielen. In manchen Fällen können Einrichtungen Prämien für das Einspringen aus der freien Zeit zahlen. In anderen gelingt die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung verschiedener Leistungserbringer in einer Region.

epd: Welche staatlichen Hilfen sind aus Ihrer Sicht notwendig?

Heuerding: Zunächst muss sehr schnell eine auskömmliche Finanzierung des durch Corona verursachten Zusatzaufwands erfolgen. Alle Einrichtungen und Dienste haben seit 2020 erhebliche Vorleistungen bei Sach- und Personalkosten zum Schutz der Menschen mit Behinderung und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erbracht sowie zur Umsetzung der Verordnungen der Bundesländer. Ein großer Leistungserbringer hat zum Beispiel mitgeteilt, dass in seinen Einrichtungen und Diensten mittlerweile eine Million FFP2-Masken gekauft werden mussten. Leider läuft die Erstattung dieser Kosten in der Behindertenhilfe vielfach nur sehr schleppend und bindet obendrein zusätzliches Personal. Darüber hinaus bedarf es einer nachhaltigen Steigerung der Attraktivität der Berufe und Unterstützung des Berufsbilds Heilerziehungspflege und Heilpädagogik. Bundes- und Landespolitik müssen gemeinsam durch gute Öffentlichkeitsarbeit, Ausbildungskonditionen und Berufsanerkennung handeln.

epd: Wie stellen sich die unterschiedlichen Leistungserbringer in der Behindertenhilfe auf die vom Gesetzgeber beschlossene einrichtungsbezogene Nachweispflicht einer Covid-19-Impfung ein?

Heuerding: Zunächst muss man feststellen, dass es nur begrenzt möglich ist, als Leistungserbringer sich und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Impfpflicht einzustellen, weil die Umsetzung teilweise unklar ist und in den Bundesländern ausgelegt wird. Natürlich wird in den Einrichtungen mit wiederum erheblichem Personalaufwand der Impfstatus der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfasst und gemeldet. Mit erheblichem Kommunikationsaufwand wird derzeit fürs Impfen geworben und gehofft, dass sich einige noch mit dem neuen Impfstoff auf Protein-Basis impfen lassen. Außerdem wird über die Folgen der Nicht Einhaltung der Impfpflicht informiert. In einigen Ländern soll dann das zuständige Gesundheitsamt tätig werden. Es wird also nicht unmittelbar eine Kündigung ausgesprochen. Gleichzeitig suchen die Leistungserbringer weiter händeringend nach Personal. Außerdem wird die Klärung offener Fragen mit den Behörden und Gesundheitsämtern gesucht. Leider laufen derzeit Klärungsprozesse mit den Gesundheitsämtern oft unzureichend.



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