Karlsruhe (epd). Bei einer über zehnjährigen Unterbringung eines psychisch kranken Straftäters im Maßregelvollzug müssen Gerichte die Einschränkung des Freiheitsgrundrechts besonders genau prüfen. Denn nach Ablauf dieser Frist geht der Gesetzgeber regelmäßig davon aus, dass der psychisch Kranke für die Allgemeinheit keine Gefahr mehr darstellt und deshalb auch nicht mehr in der Psychiatrie untergebracht werden darf, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 4. Februar veröffentlichten Beschluss.
Damit hat die Verfassungsbeschwerde eines psychisch kranken Straftäters aus Hessen Erfolg. Der Mann hatte im Januar 2004 eine Frau von hinten angegriffen, ihr an die Brust gefasst und sein Glied an ihr Gesäß gedrückt. Mit einer Hand hielt er ein Messer am Hals seines Opfers. Doch die Frau konnte sich aus der Umklammerung lösen und in ihre Wohnung fliehen.
Die verständigte Polizei stellte beim Täter einen Alkoholpegel von 2,11 Promille fest. Das Landgericht Marburg urteilte, dass der Mann wegen seiner paranoiden Schizophrenie schuldunfähig sei. Seit dem 7. Januar 2004 wurde er im Maßregelvollzug einer Psychiatrie untergebracht. Zwischenzeitlich wurde der Mann mehrfach zur Bewährung entlassen. Wegen einzelner Suchtmittelrückfälle wurden die Entscheidungen aber jeweils widerrufen.
Als das Landgericht 2020 die Fortdauer der Unterbringung anordnete und das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main das bestätigte, legte der Mann Verfassungsbeschwerde ein. Er sei nun über zwölf Jahre wegen seiner Erkrankung zwangsweise in der Psychiatrie untergebracht worden. Mittlerweile gebe es hierfür aber keinen Grund mehr. Sein Freiheitsgrundrecht werde verletzt. „Normale“ Sexualstraftäter würden nicht so lange weggesperrt wie er. Seit 17 Jahren sei es - mit Ausnahme der Suchtmittelrückfälle - zu keinen Auffälligkeiten gekommen. Während seiner Bewährungszeiten habe er im Altenheim gearbeitet.
Die Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich, entschied das Bundesverfassungsgericht. Die Fachgerichte hätten die Fortdauer der Unterbringung nicht ausreichend begründet. Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass nach Ablauf einer zehnjährigen Unterbringung im Maßregelvollzug psychisch kranke Straftäter regelmäßig nicht mehr als gefährlich gelten. Solle darüber hinaus eine Unterbringung erfolgen, müsse das prüfende Gericht Art und Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten bestimmen.
Auch müsse präzise beurteilt werden, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung, also Häufigkeit und Rückfallfrequenz, seien. Die vom Untergebrachten ausgehende Gefahr müsse „hinreichend“ konkretisiert werden. Allein die bloße Möglichkeit einer Gefahr könne die weitere Maßregelvollstreckung nicht rechtfertigen, befand das Gericht.
Je länger eine Unterbringung in einer Psychiatrie dauere, desto genauer müsse sie vom Gericht begründet werden, forderten die Verfassungsrichter. Hier habe das Landgericht aber nicht erläutert, warum eine weitere Gefahr bestehe. Dass der Beschwerdeführer seit der einmaligen Anlasstat nicht mehr auffällig geworden sei, sei bei der Gefahrenprognose nicht ausreichend berücksichtigt worden. Über den Rechtsstreit muss nun das OLG neu entscheiden.
Damit für die Verlängerung der Unterbringung im Maßregelvollzug nicht immer ein- und derselbe Sachverständige vom Gericht zurate gezogen wird und sich so Fehler bei der Begutachtung einschleichen können, sieht die Strafprozessordnung alle drei Jahre eine Überprüfung der Maßregel durch eine externe Person vor. Der Sachverständige muss dann wirklich extern sein und darf nicht in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem der psychisch kranke Straftäter untergebracht ist, forderte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 14. Januar 2021.
Das gelte auch dann, wenn der Gutachter nur räumlich getrennt in einer anderen Abteilung des Krankenhauses tätig ist. Bei einer räumlichen Nähe und betrieblichen Einheit der Abteilungen bestehe die Gefahr, „dass betriebswirtschaftliche Belange der Anstalt oder persönliche Bekanntschaften mit den untergebrachten Behandelnden die Gutachtenerstellung beeinflussen“.
Ist der Maßregelvollzug abgelaufen, darf der ehemals psychisch kranke Straftäter wegen eines fehlenden Wohnheimplatzes nicht einfach weiter festgehalten werden, entschied zudem das Oberlandesgericht Hamm in einem am 13. November 2014 gefällten Beschluss.
Im Streitfall kamen Ärzte zu dem Schluss, dass der Betroffene, ein psychisch kranker Sexualstraftäter, aus dem Maßregelvollzug entlassen werden kann. Voraussetzung: Ihm stehe ein „enges Netz therapeutischer und sozialer Hilfen“ zur Verfügung. Doch als sich kein Wohnheim bereitfand, den Mann aufzunehmen, sollte er weiter in der Psychiatrie bleiben.
Doch das ist unzulässig, entschied das OLG Hamm. Nach den ärztlichen Feststellungen könne der Gefahr künftiger Straftaten mit den Mitteln der Führungs- und Bewährungsaufsicht begegnet werden. Dass hierfür bislang kein geeigneter Wohnheimplatz bereitgestanden habe, könne nicht zulasten des ehemaligen Straftäters gehen. Wenn kein Wohnheimplatz gefunden werde, müsse der Mann dennoch entlassen werden.
Az.: 2 BvR 537/21 (Bundesverfassungsgericht Unterbringungsdauer)
Az.: 2 BvR 2032/19 (Bundesverfassungsgericht externer Gutachter)
Az.: 4 Ws 357/14 (Oberlandesgericht Hamm)