Mainz (epd). Der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert kümmert sich seit mehr als 25 Jahren um Menschen am Rande der Gesellschaft. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) berichtet er, wieso Armut ein immer größeres Problem wird und was sich für ihn geändert hat, seit ihn die Linke als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert hat. Trabert ist Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.
epd sozial: Herr Trabert, Deutschland wendet jedes Jahr riesige und ständig wachsende Summen für Sozialausgaben auf. Trotzdem haben viele den Eindruck, dass die Schere zwischen arm und reich immer größer wird. Woran liegt das?
Gerhard Trabert: Ich denke und vieles spricht dafür, dass Armut nicht wirklich bekämpft, sondern Reichtum stabilisiert wird. Solange in dieser Gesellschaft zum Beispiel der Familienstatus ein Risikofaktor für Armut ist, läuft etwas grundlegend falsch. Hier muss es eine intensive, differenzierte Form der Unterstützung geben. 40 Prozent der Alleinerziehenden und 30 Prozent der Paarhaushalte mit drei und mehr Kindern sind von Armut betroffen. Wir wissen, dass die Altersarmut stärker zunimmt als Armut insgesamt, und davon sind besonders Frauen betroffen. Noch immer bekommen Frauen für dieselbe Arbeit 18 Prozent weniger Lohn als Männer. Frauen leisten in der Care-Arbeit für Kindererziehung, bei der Betreuung von Angehörigen und der Pflege so viel, ohne dass daraus Rentenansprüche entstehen. Wir haben immer noch keine Bildungsgerechtigkeit. Es wird von der OECD immer wieder bemängelt, dass die Bildungskarriere in Deutschland so sehr wie in fast keinem europäischen Land vom Sozialstatus der Eltern abhängt. Da wird Armut quasi vererbt.
epd: Der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gilt als einer der Architekten von Gerhard Schröders „Agenda 2010“. Wie lautet Ihr Fazit der „Agenda-Maßnahmen“?
Trabert: Diese Reform hat das Land mehr gespalten. Es sind hierdurch mehr Menschen in prekäre Situationen, in Einkommensarmut geraten und die Kinderarmut hat auch zugenommen. Im europäischen Vergleich ist Deutschland inzwischen beim Niedriglohnsektor führend - im negativen Sinne. Was ich zudem als fatal empfinde, ist dieser Slogan vom „Fördern und Fordern“. Da wird immer unterschwellig suggeriert, die Leute seien faul. Meine Erfahrung mit Menschen am Rande der Gesellschaft ist eine andere: Sie wollen arbeiten, sie wollen fair entlohnt werden, und sie wollen eine sinnvolle Tätigkeit. Wenn sie das Gefühl haben, sie stecken in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die keinen Sinn macht, sind sie vielleicht nicht so motiviert. Das wäre ich auch nicht.
epd: Werden aus Ihrer Sicht arme Menschen von der Politik vertreten?
Trabert: Nein, ich finde, dass es so gut wie keine Lobby gibt für Menschen, die von Armut betroffen sind. Die Nationale Armutskonferenz, die Wohlfahrtsverbände und auch Betroffeneninitiativen melden sich immer wieder ganz klar zu Wort, aber im politischen Alltag wird das nicht gehört. Eine Erklärung sehe ich in der großen Ferne vieler politisch Aktiver von der Lebenswirklichkeit der von Armut Betroffenen. Ich habe den Eindruck, dass vielen Politikern die Dimension des Problems in unserer Gesellschaft nicht bewusst ist.
epd: Was meinen Sie damit?
Trabert: Viele glauben, dass es sich ja nur um „relative Armut“ handele, dass sich eben nicht alle eine Urlaubsreise oder das neueste Smartphone leisten können. Aber Menschen in prekären sozialen Verhältnissen sind im Schnitt 14 Jahre früher von chronischen Erkrankungen betroffen. Ein von Armut betroffener Mann hat die mittlere Lebenserwartung eines Nordafrikaners, 30 Prozent erreichen nicht einmal das 65. Lebensjahr. Wir kennen Studien, denen zufolge langzeitarbeitslose Männer eine 20-fache höhere Suizidquote haben als Erwerbstätige. Die Auswirkungen von Armut müssen doch ein politisches Querschnittsthema sein.
epd: Haben arme Menschen überhaupt noch die Hoffnung, dass sich für sie etwas verbessern könnte?
Trabert: Mein Eindruck ist, dass die meisten resigniert haben. Sie glauben nicht mehr, dass sie von der Politik ernst genommen werden. Als ich 2021 für den Bundestag kandidierte, habe ich von vielen wohnungslosen Menschen gehört: „Doc, ich war jetzt das erste Mal im Leben wählen“. Das war für mich das Wichtigste an meinem Wahlkampf. Wir müssen die Menschen, die ausgegrenzt werden, wieder für das Modell unserer Demokratie gewinnen. Denn es gibt eine Chance, mitzubestimmen.
epd: Glauben Sie, dass ein „Anwalt der Armen“ wie Sie auch in höheren Staatsämtern diese Rolle weiter glaubhaft ausfüllen könnte? Würde da nicht automatisch eine Distanz entstehen?
Trabert: Diese Gefahr besteht mit Sicherheit. Aber ich würde versuchen, auch weiter zumindest alle paar Wochen mit dem Arztmobil zu fahren. Auf jeden Fall würde ich als Bundespräsident auch mit einer Hilfsorganisation aufs Mittelmeer fahren, um Menschen zu retten, die in Gefahr sind. Ich würde versuchen, den Dialog mit Betroffenen zu institutionalisieren.
epd: Als Arzt weisen Sie regelmäßig auf den Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit hin. Wie empfinden Sie die Haltung Ihrer Berufskollegen zu dem Thema?
Trabert: Das ist ganz unterschiedlich. In jüngster Zeit habe ich das Gefühl, dass gerade unter den Studierenden viele mein Selbstverständnis von Medizin teilen. Und im vergangenen Jahr ist etwas Wichtiges passiert: Das Thema soziale Ausgrenzung und Armut wurde in den Prüfungskatalog aufgenommen. Das finde ich unheimlich wichtig. Machen wir uns nichts vor, im Studium beschäftigt man sich mehr mit den Themen, die auch geprüft werden. Aber es gibt auch eine andere Fraktion in der Ärzteschaft. Als ich kritisiert habe, dass Ärzte für das Impfen zu viel Geld bekommen, hieß es schnell, ich sei ein Nestbeschmutzer. Mein soziales Engagement sei ja ganz gut, aber aus Honorardiskussionen solle ich mich bitte heraushalten.
epd: Für Ihre Arbeit mit Wohnungslosen oder Menschen ohne Krankenversicherung haben Sie in der Vergangenheit fast ausnahmslos Lob und Ehrungen erhalten. Nun erscheint es so, dass Sie mehr Gegenwind erfahren, seit Sie sich auch mit Politik beschäftigen. Was macht das mit Ihnen?
Trabert: Ich betone ja immer, dass ich parteilos bin. Trotzdem hat es Konsequenzen, wenn man von den Linken vorgeschlagen wird oder sich als Parteiloser für die Linken um ein Direktmandat bewirbt. Ich stehe mit Überzeugung für eine Umverteilung von oben nach unten. Bestimmte gesellschaftliche Kreise sagen mir ganz klar: Jetzt, wo du für die „Kommunisten“ auftrittst, können wir dich nicht mehr unterstützen. Für die bin ich jetzt nicht mehr nur der liebe, gute Doktor, der Wohnungslose versorgt, sondern einer, der unser politisches System und unser Verteilungssystem infrage stellt.
epd: Und es gab Aufregung über eine Äußerung von Ihnen ...
Trabert: Ich habe davon gesprochen, dass in Deutschland einst auch das Wegschauen dazu führte, dass aus einer Demokratie eine Diktatur entstand, die mit unvergleichlichen Morden an jüdischen Mitbürgern, Sinti, Roma, körperlich oder geistig behinderten und wohnungslosen Menschen endete. Da wurde mir von bestimmten Medien unterstellt, dass ich Opfer von damals mit ausgegrenzten Menschen von heute gleichsetze - dies habe ich niemals getan und nie gesagt. Ich muss mich jetzt mit Angriffen auseinandersetzen, die nichts mehr mit einem fairen Diskurs zu tun haben.