sozial-Politik

Wohnen

Zunehmendes Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen




Im Frankfurter NiKA.Haus wird gemeinschaftliches Wohnen gelebt.
epd-bild/Heike Lyding
Mehr Zusammenhalt erleben - manche Menschen wollen sich diesen Wunsch durch gemeinschaftliche Wohnformen erfüllen. Michael Selig hat den Umzug in ein Wohnprojekt nicht bereut, er erlebe dadurch mehr als "Arbeit und Familie".

Frankfurt a.M. (epd). In der Gemeinschaft Schloss Tempelhof im baden-württembergischen Kreßberg wohnt ein bunt gemischter Haufen zusammen. „Wir haben Familien, Singles, alte und junge Leute“, sagt Michael Selig. Der ehemalige Personalleiter lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern seit 2016 in der Gemeinschaft. Drei Jahre vor dem Umzug kam er mit dem „Tempelhof“ erstmals in Kontakt: „Mich hat es fasziniert zu sehen, wie die Menschen hier zusammen leben und arbeiten.“

Experimentelle Wohnformen

Seit 2010 gibt es mit dem „Tempelhof“ in Baden-Württemberg eine sozial-ökologische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Knapp 100 Erwachsene und 40 Kinder wohnen hier zusammen. „Manche in Jurten, manche in Bauwagen oder in anderen experimentellen Wohnformen“, erzählte Meike Selig. Die Seligs haben eine Wohnung. Die ist viel kleiner als das Haus, das sie zuvor besaßen. „Wir leben jetzt zu fünft auf 100 Quadratmetern, vorher hatten wir fast das Doppelte“, erzählt Meike Selig. Vor dem Haus standen einst zwei eigene Autos. Auch die gibt es nicht mehr: „Wir nehmen im Tempelhof am Car-Sharing teil.“

Den Umzug hat Michael Selig keine Minute bereut. „Früher war mein Leben sehr durch Arbeit dominiert gewesen“, erzählt er. Außer Arbeit und Familie habe es fast nichts gegeben. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass die Schwerpunkte meines Lebens falsch gesetzt waren“, sagt der studierte Betriebswirt, der inzwischen als Gemeinwohl-Berater tätig ist. Michael Selig wollte mehr Zeit für Freundschaften haben. Und für essenzielle Themen: „Als ich den ‚Tempelhof‘ kennen lernte, dachte ich, wow, das könnte genau der Ort sein, wo ich meine Wünsche realisieren kann.“

Ähnlich ging es Meike Selig. Sie träumte davon, ökologischer zu leben. Und viel mehr mit anderen Menschen zu teilen. Je länger die Seligs in der Ökosiedlung wohnen, desto intensiver fühlen sie sich als Teil einer starken Gemeinschaft. „Das ist deshalb so, weil wir zusammen viel Prozessarbeit machen“, so Meike Selig. Dadurch weiß jeder Bewohner viel aus der Biografie des jeweils anderen: „Bis hin zu dessen Traumata, so dass man ein befremdliches Verhalten gut einordnen kann.“

Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Der „Tempelhof“ ist eine besondere Form des gemeinschaftlichen Wohnens. Die wenigsten Wohnprojekte verweben die Mitglieder so intensiv zu einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.

Insgesamt wächst nach einer aktuellen Studie das Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen. Rund 3.000 Wohnprojekte gibt es in Deutschland, heißt es in der Studie „Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen“ der Hochschule Karlsruhe und des Deutschen Jugendinstituts (DJI, München). Über 60 Prozent der für die Studie befragten Familien sind danach der Ansicht, dass sie Familie und Beruf durch ihr Wohnprojekt viel besser vereinbaren können.

Auch Ute Sonntag lebt eng mit anderen Menschen zusammen. Die 36-Jährige vom „Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen“ zog mit ihrer Familie vor über zwei Jahren ins Frankfurter NiKA.Haus (die Abkürzung steht für Niddastraße/Ecke Karlstraße). „Ich wohne hier mit Menschen zusammen, auf die ich unter Umständen in meinem Alltag nie getroffen wäre, und das nehme ich als große Bereicherung wahr“, sagt sie. Sich mit ihren Mitbewohnern auseinanderzusetzen, stelle zwar eine Herausforderung dar. „Doch für mich ist dies die beste Art, mental und emotional nicht einzurosten und Menschlichkeit auf einem oft sehr harten städtischen Pflaster zu spüren“, sagt sie.

Hoher ökologischer Anspruch

Wohnprojekte zeichnen sich nicht nur durch einen starken Willen zur Gemeinschaft aus. Viele haben auch einen hohen Öko-Anspruch. Neue Häuser werden zum Beispiel oft aus Holz gebaut, sagt Susanne Dürr, Professorin für Städtebau an der Hochschule Karlsruhe, die an der Studie „Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen“ beteiligt war. Auch wird versucht, den Flächenverbrauch pro Kopf zu reduzieren. Zudem seien häufig innovative Mobilitätskonzepte in die Projekte integriert wie etwa Car-Sharing.

Probleme bereitet manchmal die Übergangsphase vom „Einzelwohnen“ zum Wohnen in Gemeinschaft. „Meist kommt ein emotionales Hoch nach dem Einzug, wo alles rosarot ist, und dann ein Tief, wo alles und alle nerven“, schildert Ute Sonntag aus ihren persönlichen Erfahrungen. Danach pendle sich die Sache in aller Regel ein. Die Menschen blieben im Projekt, und zwar oft viele Jahre. Das gelingt laut DJI-Wissenschaftlerin Martina Heitkötter vor allem deshalb so gut, weil sich Räume in Wohnprojekten den veränderten Bedürfnissen von Familien in vielen Fällen leicht anpassen lassen.

Für Ute Sonntag hat der Umzug ins NiKA-Projekt problemlos geklappt. Was auch daran lag, dass sie reichlich WG- und Wohnprojekterfahrung mitbrachte. Menschen, die sich fragen, ob sie für ein Wohnprojekt geeignet sind, verweist sie auf den Fragebogen „Sind Sie ein gemeinschaftlicher Wohntyp?“ des Netzwerks Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen. „Will ich wirklich mehr Nähe?“, lautet eine der Fragen, die bei der Entscheidungsfindung helfen sollen.

„Erwartungen nicht allzu hoch hängen“

„Unbeleckte“ haben mitunter völlig falsche Vorstellungen vom gemeinschaftlichen Wohnen. Gemeinschaft - das klingt so schön kuschelig. Doch allein der Planungsprozess kann schwierig sein, sagt Stadtsoziologin Annette Spellerberg von der TU Kaiserslautern: „Er dauert fünf bis sieben Jahre und erfordert Durchhaltevermögen.“ In dieser Phase kämen große Herausforderungen auf die Initiativen zu: „Sie müssen beispielsweise mit sehr hohen Finanzbelastungen umgehen.“ Nach dem Einzug könnten Enttäuschungen auftreten, weil sich einige Bewohner erst einmal ins Private zurückziehen.

Gruppenfähigkeit ist für Heike Skok das oberste Gebot für die Teilnahme an einem Wohnprojekt. Dabei reiche die eigene Familie als „Gruppe“ nicht, sagt die Beraterin von der „Mitbauzentrale München“: Man sollte in einem Verein oder Chor aktiv gewesen sein. „Den Projektgruppen empfehlen wir gleichzeitig, die Erwartung an die Gemeinschaft nicht allzu hoch zu hängen“, sagt die Beraterin, die sich seit 30 Jahren mit Wohnprojekten befasst. Im Durchschnitt ist ein Drittel der Teilnehmer am Wohnprojekt nach Heike Skoks Erfahrung letztlich nicht sonderlich aktiv. Das Gros allerdings schätzt es, in Gemeinschaft zu leben.

Pat Christ