Berlin (epd). In Deutschland werden die Rufe nach einer Impfpflicht zumindest für bestimmte Berufsgruppen lauter. Am 11. November sprach sich der Deutsche Ethikrat angesichts der steigenden Corona-Zahlen für eine rasche Prüfung einer berufsbezogenen Impfpflicht aus. Beschäftigte, die schwer oder chronisch kranke sowie hochbetagte Menschen versorgen sowie Mitarbeitende des Sozialdienstes, der Alltagsbegleitung oder der Hauswirtschaft „tragen eine besondere Verantwortung dafür, die ihnen Anvertrauten nicht zu schädigen“, heißt es in einer Ad-hoc-Stellungnahme des Wissenschaftlergremiums.
Auch in den Verbänden ändert sich die Haltung. Für die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Caritas ist eine Impfpflicht inzwischen vorstellbar. Der Diakonie Bundesverband wirbt offensiv dafür.
Der Ethikrat erklärte weiter, eine mögliche Impfpflicht müsste für Institutionen und Einrichtungen gelten, die dafür verantwortlich sind, die dort versorgten Menschen keinen vermeidbaren gesundheitlichen Gefahren auszusetzen. Die evangelische Theologin Petra Bahr, Mitglied im Ethikrat, erläuterte, es gehe zum Beispiel neben Pflegeheimen auch um Kindergärten und Grundschulen, solange Kinder sich nicht impfen lassen können.
Der Ethikrat empfiehlt der Bundesregierung, „unverzüglich eine hinreichend differenzierte gesetzliche Regelung für eine berufsbezogene Impfpflicht zu prüfen“. Bahr sieht darin die eigentliche Herausforderung. Impfen sei eine moralische Verpflichtung, sagte die hannoversche Regionalbischöfin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eine rechtliche Pflicht sei etwas anderes.
Dennoch ist Bahr dafür. Hintergrund der Vorsicht vor einer Impfpflicht in Deutschland sei ein Freiheitsverständnis, das allein vom Individuum ausgehe „und so tut, als wären Gemeinschaftspflichten nachrangig“, sagte sie. „Individuelle Freiheit kann aber nie so weit gehen, dass Schwächere, die keine Ausweichräume haben, dadurch potenziell stark geschädigt werden“, ergänzte die Theologin. Ob die Politik das Thema angeht, ist noch offen. Im Bundestag, wo am Donnerstag die Corona-Pläne der möglichen Ampel-Koalition - bislang ohne Impfpflicht - diskutiert wurden, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, man könne sich der Debatte nicht entziehen.
Für die Prüfung einer Impfpflicht plädiert inzwischen auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft. „Die Pandemielage erlaubt unnötige Verzögerungen nicht mehr“, sagte der Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß dem epd. Auch die Caritas änderte ihre Meinung. „Wenn wir nicht bald deutlich höhere Impfzahlen in der Bevölkerung und unter den Pflegekräften haben, werden wir uns für eine Impfpflicht für medizinisch-pflegerisches Personal auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes aussprechen müssen“, sagte die Präsidentin des katholischen Verbands, Eva Welskopp-Deffaa, dem epd.
Zur in der Diskussion um eine Impfpflicht geäußerten Sorge vor einer weiteren Flucht von Pflegefachkräften aus dem Job erklärte der Ethikrat, dies müsse berücksichtigt werden, sei aber „im Rahmen der Schutzpflichten gegenüber Menschen aus Hochrisikogruppen zu bewerten“. Bahr sagte, in vielen europäischen Ländern sei die Impfpflicht für Berufe mit Kontakt zu besonders gefährdeten Gruppen längst eingeführt. „Die Sorge vor Kündigungswellen in einem Bereich mit großem Fachkräftemangel hat sich nicht bestätigt“, sagte sie.
Als „Pflicht“ bezeichnete unterdessen auch die frisch gewählte neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, eine Impfung gegen Corona. Sie halte es für wichtig und auch für eine Aufgabe vom christlichen Auftrag her, dass sich Menschen impfen lassen, wenn nicht etwa eine Krankheit dagegen spricht, sagte sie in den ARD-„Tagesthemen“. „Das halte ich nicht für eine individuelle Entscheidung, bei der ich 'so oder so' sagen kann“, ergänzte Kurschus