Augsburg (epd). Professor Lindner verweist darauf, dass nicht die Inzidenzen der entscheidende Punkt in der Debatte über eine Impfpflicht seien, sondern die konkrete Gefahr, dass auf von nicht geimpften Corona-Patienten belegten Intensivstationen keine anderen Notfälle wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle mehr behandelt werden können. Eine Impfpflicht sei verfassungsrechtlich zulässig, wenn ansonsten die Intensivstationen kollabierten. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Wie würden Sie eine Impfpflicht rechtlich begründen?
Josef Franz Lindner: Zunächst muss man sagen, dass eine Impfpflicht ein schwerer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Bürgers ist, die vom Grundgesetz per se geschützt ist. Aber, und das ist wichtig, jedes Grundrecht kann auch eingeschränkt werden. Wenn es dafür hinreichend gewichtige Gründe gibt. Und hier sage ich, ja, die gibt es.
epd: Aber eben nicht mit Blick auf den universellen Schutz vor Covid-19?
Lindner: Nein, darum geht es bei einer Impfpflicht nicht. Das müssen die Leute schon selbst bewerkstelligen. Eben durch Impfung. Aber der Staat hat eine Schutzpflicht. Er muss sicherstellen, dass Menschen in allen medizinischen Notfällen in Kliniken optimale Hilfe bekommen. Und genau das ist nicht mehr gewährleistet, wenn die Intensivstationen kollabieren, weil zu viele ungeimpfte Corona-Patienten gleichzeitig ein Intensivbett brauchen. Das zu verhindern, ist der verfassungsrechtlich legitime Zweck einer Impfpflicht. Denn mit der Zahl weiterer Impfungen sinkt auch die Zahl der Corona-Intensivpatienten.
epd: Bleibt für den Juristen die Frage, ob ein solcher Schritt auch erforderlich ist?
Lindner: Erforderlich wäre eine solche Pflicht nur dann nicht, wenn es ein milderes Mittel geben würde, das gleich geeignet wäre. Aber was sollte das sein? Noch mehr Aufklärung? Oder setzt man auf 2G oder 3G? Oder wäre ein Lockdown nur für Ungeimpfte oder gar für alle ein milderes Mittel? Wohl kaum. Und auch den müsste die Politik erst mal durchsetzen.
epd: Zumal das ja auch die Einführung einer Impfpflicht durch die Hintertür wäre ...
Lindner: Stimmt. Dann kann man sie auch gleich einführen. Bleibt die Frage der Zumutbarkeit. Ist eine Impfpflicht zumutbar, wenn damit der mögliche Tod von anderen Patienten verhindert werden kann, wenn vermieden wird, dass Menschen sterben, weil sie nicht oder nicht rechtzeitig auf Intensivstationen behandelt werden können? Diese Rechtsgüter müssen gegeneinander abgewogen werden. Meiner Meinung nach ist der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch Impfspritzen hier zumutbar. Aus verfassungsrechtlicher Sicht komme ich deshalb zu dem Schluss, dass eine Impfpflicht jedenfalls dann verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn ansonsten die Intensivstationen kollabieren.
epd: Auch viele Fachverbände sind strikt gegen eine Impfpflicht. Ihr Argument: Wenn die kommt, verlassen die Fachkräfte den Job. Ist das wirklich zu befürchten?
Lindner: Das ist zunächst eine Hypothese. Ich bezweifle das. Es gibt Erfahrungen aus Frankreich. Nach vorliegenden Informationen, die ich aber auch nur aus der Zeitung habe, ist das nicht eingetreten. Und ich verstehe dieses Argument der Verbände auch nicht. Die Pflegekräfte klagen doch zurecht darüber, dass die Arbeit auf den Intensivstationen so schwierig ist. Das liegt natürlich an der hohen Zahl der Intensivpatienten, die man mittels Impfungen aber gerade reduzieren könnte. epd: Im Moment ist ja nur die Rede von Pflegekräften in Heimen und Kliniken. Aber wo soll man die Grenze ziehen? Was ist mit Erzieherinnen, Lehrern oder Sozialarbeitern, die alle viele Außenkontakte haben?
Lindner: Sie sprechen hier den schwierigsten Punkt an. Da muss man mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz schauen, dass man sachgerechte Kriterien definiert. Denn eine allgemeine Impfpflicht für alle Bürgerinnen und Bürger wäre aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch, da zu weit gehend. Für mich wären nur Personen für eine Impfpflicht vorzusehen, die im Falle einer Infizierung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Dazu muss man sich anschauen, welche Personen das sind. Die Daten dazu könnten die Kliniken liefern. Die wissen ja, wen sie in ihren Intensivbetten behandeln. Es sind vor allem ältere Personen. Man könnte also sehr wohl überlegen, ob man berufsgruppenunabhängig Personen über dem Alter von 60 oder 65 Jahren einbezieht. Das wäre rechtlich machbar, wenn es sich empirisch untermauern lässt.
epd: Immer wieder ist von Gesundheitspolitikern zu hören, eine Impfpflicht sei verfassungsrechtlich nicht möglich. Macht es sich die Politik hier zu einfach?
Lindner: Das Bundesverfassungsgericht hat bisher noch nicht entschieden, dass eine Impfpflicht grundsätzlich gegen die Verfassung verstößt. Die These, dass eine Corona-Impfpflicht verfassungswidrig ist, ist schlicht nicht haltbar. Richtig ist aber, dass es hohe verfassungsrechtliche Anforderungen gibt, die vorliegen müssen. Zu sagen, das geht rechtlich grundsätzlich nicht, ist eine Ausrede. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und andere Politiker haben ja immer gesagt, es werde keine Impfpflicht geben. Da stehen sie nun im Wort, hinter diese Aussagen können sie nicht zurück. Deswegen klammert sich jetzt mancher an den letzten Strohhalm, den er hat, und das ist das Verfassungsrecht.
epd: Wie und wo müsste eine Impfpflicht rechtlich geregelt werden?
Lindner: Das ist Sache des Bundestages. Dort gibt es nun neue Mehrheiten. Der Bundestag müsste das Infektionsschutzgesetz ändern, hier den Paragrafen 20. Das können auch nicht die Länder im Alleingang machen, denn hier ist die Kompetenz des Bundes berührt. Zu klären wäre zudem, ob auch der Bundesrat einer solchen neuen Regelung zustimmen müsste. Wahrscheinlich wäre das so, denn die Länder hätten diese Impfpflicht ja umsetzen. Und hier würde es besonders problematisch, denn es wäre alles andere als einfach, eine Impfpflicht auch tatsächlich durchzusetzen.
epd: Gehen Sie davon aus, dass die Impfpflicht zumindest für Pflegefachkräfte in absehbarer Zeit kommen wird?
Lindner: Ich glaube, dass die Impfpflicht für Teilbereiche kommen wird. Weil der Druck auf den Intensivstationen weiter steigen wird. Die Politik wird handeln müssen. Spätestens dann, wenn die ersten Bilder im Fernsehen oder Internet zu sehen sind, dass Notfallpatienten wegen Überfüllung nicht mehr in Krankenhäusern aufgenommen werden können. Aber dann ist es für viele schon zu spät.