sozial-Branche

Pflege

Gastbeitrag

Neue Bundesregierung muss bei der Pflege dringend handeln




Christine Vogler
epd-bild/Gudrun Arndt/Deutscher Pflegerat
Im Wahlkampf war es erstaunlich still um das Thema Pflege. Damit müsse jetzt Schluss sein, fordert die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, in ihrem Gastbeitrag für epd sozial. Vier weitere Jahre ohne konsequente Veränderungen für die Pflegenden und Pflegebedürftigen seien keine Option: "Wenn wir jetzt nicht handeln, verlassen noch mehr Menschen den Beruf."

Eine gute und bedarfsgerechte Pflege betrifft nicht nur die knapp 1,8 Millionen professionell Pflegenden in Deutschland, sie geht uns alle an. Der Deutsche Pflegerat hat vier Kernforderungen an die neue Regierung formuliert: mehr Eigenständigkeit und Verantwortung für die Pflegeprofession, eine angemessene Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und eine starke Vertretung. Nicht zuletzt die Pandemie hat gezeigt: Die Pflege ist am Limit. Wenn wir jetzt nicht handeln, verlassen noch mehr Menschen den Beruf.

4.000 Euro Einstiegsgehalt sind angemessen

Schon jetzt fehlt es überall an Personal. Bessere Arbeitsbedingungen sind nicht nur wünschenswert, sondern die Grundvoraussetzung dafür, die pflegerische Versorgung in Zukunft zu gewährleisten. Dafür muss der Pflegeberuf eine deutliche Aufwertung erfahren. Und der Hebel dafür ist die Bezahlung. Für junge Menschen ist ganz klar: Nur dort, wo ein angemessener Lohn in Aussicht steht, kann eine berufliche Perspektive entstehen.

In Zahlen übersetzt heißt das: Das Einstiegsgehalt nach Ausbildungsabschluss muss bei mindestens 4.000 Euro brutto liegen. Die Gründe liegen auf der Hand: Der Beruf bringt eine hohe Verantwortung mit sich und deutliche Belastungen, zum Beispiel durch Schichtdienste. Untersuchungen zeigen, dass das Anforderungsprofil in der Pflege vergleichbar ist mit dem von Ingenieurinnen und Ingenieuren. Doch bislang schlägt sich das auf dem Lohnzettel keineswegs nieder.

Flucht aus dem Beruf

Vielen ist nicht in aller Deutlichkeit bewusst, was es für die Versorgung konkret bedeutet, wenn die Rede von der überlasteten Pflege ist. Zeitdruck in der Pflege heißt, dass in der ambulanten Versorgung, in der Klinik und in der Altenpflege die Menschlichkeit, die soziale Fürsorge, unter den Tisch fällt. Im Grunde geht es dann nur noch darum, die grundlegenden Vitalfunktionen aufrecht zu erhalten.

Ein Beispiel: Eine Pflegekraft in der Klinik auf einer akut chirurgischen Station ist nachmittags allein oder höchstens mit einer weiteren Person für 34 Patientinnen und Patienten zuständig. Das ist keineswegs unüblich. Was ist in dieser Situation möglich? Bei Schmerzen bekommt der Patient seine Tabletten. Einen Wickel anlegen, Ablenkung bieten oder auf den Gesprächsbedarf von Angehörigen eingehen - für all das ist keine Zeit. Solch ein Umgang mit Menschen läuft dem Versorgungsverständnis der Pflegenden vollkommen zuwider. Und genau dieser Widerspruch treibt viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Beruf.

Wer in der Pflege bleibt, trägt die Anspannung häufig mit in den Feierabend. Ein enormes Problem für den Berufsstand ist die kurzfristige Dienstplanung, die keinerlei Sicherheit bietet. Soziale Aktivitäten mit festen Terminen sind nahezu unmöglich. Wer an seinem freien Tag damit rechnen muss, bei Anruf spontan einspringen zu müssen, kann freie Zeit weder aktiv planen noch sich erholen. Es geht soweit, dass Kolleginnen und Kollegen manchmal einfach nicht ans Telefon gehen, um einen Tag Ruhe zu haben. Aber wohl fühlt sich damit natürlich niemand.

Dem Nachwuchs eine Perspektive bieten

Wir brauchen jetzt dringend bessere Arbeitsbedingungen, um Pflegende im Beruf zu halten und gleichermaßen für nachfolgende Generationen Perspektiven zu schaffen. Pflege muss für junge Menschen attraktiv sein. Doch wenn es an Zeit für Praxisanleitung fehlt und erfahrene Kolleginnen und Kollegen selbst nicht vorleben können, was den Beruf ausmacht, beginnt das Berufsleben heute eher mit einem Gefühl der Ernüchterung und Überforderung.

Und das hat Konsequenzen: Die Abbruchsquote in den Ausbildungsjahrgängen seit 2020 beträgt rund 15 Prozent, Tendenz steigend. Solch vergebenes Potenzial können wir uns nicht leisten. Und dabei starten die Auszubildenden mit hohen Idealen. Sie wollen sich Menschen zuwenden, sie versorgen und mit hoher Fachlichkeit unterstützen. Und sie fordern ein, was in der Pflege selbstverständlich sein sollte: Selbstständigkeit und Autonomie.

Eine Pflegekraft, die einen Patienten mit offenem Bein zu Hause versorgt, weiß, was zu tun ist. Problemlos könnte sie schnelle Abhilfe schaffen, indem sie die nötigen Heilmittel verschreibt. Doch dies ist Ärztinnen und Ärzten vorbehalten. Wenn wir wollen, dass Pflegende ihre beruflichen Kompetenzen zum Wohle der Patientinnen und Patienten einsetzen, muss es ihnen auch möglich sein, Verantwortung für die Versorgung zu übernehmen. Das ist ein überfälliger Schritt.

Der Pflegeberuf muss im Sinne der Menschen umgestaltet werden: Es gibt bereits das Konzept der Community Health Nurses, also Pflegenden, die in ihrer Region für Familien und für Menschen mit Unterstützungsbedarf ansprechbar sind. Ein größeres Kompetenzfeld würde es erlauben, dass Pflege auch Prävention betreibt und nicht nur das Überleben sichert. Deutschland braucht selbstständig agierende Pflegekräfte und die ganze Profession braucht eine Zukunftsperspektive - nicht zum Selbstzweck, sondern weil es die Gesellschaft im Ganzen betrifft. Die neue Bundesregierung, egal in welcher Zusammensetzung, ist jetzt gefordert, diese Perspektive in klare Maßnahmen zu überführen.

Christine Vogler ist Präsidentin des Deutschen Pflegerates.