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Behinderung

Studie: Bei der Behindertenhilfe haben beide deutschen Staaten versagt



Jahrzehntelang haben Kinder und Jugendliche in Behinderteneinrichtungen und der Psychiatrie in der Bundesrepublik und der DDR gelitten. Eine umfangreiche Studie untersucht das Ausmaß von Mangel, Unrecht und Gewalt in beiden deutschen Ländern.

Berlin (epd). Behinderten Kindern und Jugendlichen ist in Heimen und psychiatrischen Kliniken in der frühen Bundesrepublik und in der DDR vielfaches Leid und Unrecht zugefügt worden. Eine umfangreiche Studie im Auftrag der Bundesregierung kommt zu dem Ergebnis, dass trotz unterschiedlicher politischer Systeme die Kinder in beiden deutschen Ländern unter Mangel, Härte, Gewalt, fehlender Förderung, Isolation und Zwang gelitten haben. Sie wurde am 30. September in Berlin der Stiftung Anerkennung und Hilfe übergeben, die beim Bundessozialministerium angesiedelt und für Entschädigungszahlungen an die Betroffenen zuständig ist.

Alle Formen der Gewalt

Der Leiter des Forschungsteams, der Düsseldorfer Medizinhistoriker und Ethiker Heiner Fangerau, sagte, den behinderten Kindern und Jugendlichen sei es noch schlechter ergangen als anderen Heimkindern, weil sie „noch mehr vernachlässigt worden“ seien. Er rief die heutigen Einrichtungen auf, die Beschäftigung mit der Vergangenheit lokal fortzusetzen: „Das darf mit dieser Studie nicht zu Ende sein“, sagte Fangerau.

Die Forscherinnen und Forscher fanden alle Formen körperlicher und psychischer Gewalt im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen. Kliniken und Heime seien schlecht ausgestattet, das Personal häufig überfordert und die Ruhigstellung der Kinder durch Medikamente vielfach üblich gewesen. Dokumentiert werden Straf- und Zwangsmaßnahmen, körperliche Gewalt, Isolation, jede Form von Demütigungen, Fixierungen, Essenszwang oder Essenentzug. In einigen Einrichtungen seien Medikamente getestet worden, sagte Fangerau. Eine angemessene Förderung der behinderten Kinder habe es nicht gegeben.

Die Kontrollen durch Behörden seien mangelhaft gewesen, bilanziert die Studie, die an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität koordiniert wurde. Die Gesellschaften beider Länder hätten der Situation von behinderten und psychisch kranken Kindern überwiegend gleichgültig gegenüber gestanden. Erst ab den 1970er Jahren habe sich in der Bundesrepublik die Betreuung verbessert und seien die Reformbemühungen auch von kirchlichen Einrichtungen in der DDR aufgegriffen worden. In staatlichen Heimen und Kliniken habe sich dagegen bis zum Ende der DDR wenig verbessert.

Zu lange nicht gehört worden

Für die Kirchen sagte der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Prälat Martin Dutzmann, die Betroffenen seien zu lange nicht gehört worden. Das sei vorbei. Alle Beteiligten müssten sich dafür einsetzen, dass Derartiges nicht mehr passiere, sagte Dutzmann.

Die Forscherinnen und Forscher untersuchten den Angaben zufolge 17 Behindertenheime und psychiatrische Kliniken in der Bundesrepublik und der DDR. Die Einrichtungen waren in öffentlicher, katholischer oder evangelischer Trägerschaft. Sie werteten 1.500 Fallakten aus, führten 60 Interviews mit Betroffenen und Zeitzeuginnen und -zeugen und berücksichtigten weitere 170 Berichte, darunter auch Schilderungen von Angehörigen und damaligen Beschäftigten.

Die Stiftung Anerkennung und Hilfe zahlt Leistungen an Menschen, die in der Psychiatrie oder in Behinderteneinrichtungen der Bundesrepublik (1949-1975) und der DDR (1949-1990) als Kinder und Jugendliche Leid und Unrecht erfahren haben. Sie wurde 2017 vom Bund und den Ländern, den Kirchen und deren Wohlfahrtsverbänden errichtet. Von insgesamt 305 Millionen wurden bisher 204 Millionen Euro an rund 20.000 Menschen ausgezahlt. Die Zahlungen sollen helfen, die Folgewirkungen des Leids in ihrer Kindheit zu mildern und sind Teil der Anerkennung jahrzehntelangen Unrechts. Die Aufarbeitung der Missstände in der Behindertenhilfe und Psychiatrie hatte analog zur Auseinandersetzung mit dem Schicksal früherer Heimkinder begonnen.

Bettina Markmeyer


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