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Experten: Rentensystem benachteiligt Geringverdiener




Rentnerpaar auf einer Parkbank
epd-bild/Jürgen Blume
Bei der gesetzlichen Rente werden Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen nach Auffassung von Fachleuten mehrfach benachteiligt. Sie fordern deshalb Reformen.

Frankfurt a. M. (epd). Wohlhabende Menschen leben im Durchschnitt länger als Arme. Das gilt nicht nur weltweit, sondern auch für Deutschland. Deshalb beziehen Menschen, die gut verdient haben, im Alter länger Rente als Geringverdiener. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, macht daher in seiner regelmäßigen Kolumne in „Zeit online“ darauf aufmerksam, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) eine „massive Umverteilung von unten nach oben, von Arm zu Reich“ stattfindet.

Keine finanziellen Rücklagen

Besonders ungerecht findet der Paritätische Wohlfahrtsverband die Regelungen für Rentnerinnen und Rentner, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. „Die Höhe der Grundsicherung ist ganz und gar nicht ausreichend“, sagte Joachim Rock, Abteilungsleiter „Arbeit, Soziales und Europa“ bei dem Wohlfahrtsverband, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der DIW-Forscher Johannes Geyer sagte dem epd, er könne Kritik an der Höhe der Regelsätze „nachvollziehen“.

„Will man Armut wirklich bekämpfen, müsste der Regelsatz für eine alleinstehende Person in diesem Jahr mindestens 644 Euro betragen und nicht, wie im Gesetz festgelegt, 446 Euro im Monat.“ Außerdem müsse der Staat die Kosten der Unterkunft und Heizung in voller Höhe übernehmen und nicht lediglich, wie es im Gesetz heißt, „angemessene Wohnkosten“.

Für Rentnerinnen und Rentner müssten allerdings bei der Grundsicherung im Alter mindestens weitere zehn Prozent hinzukommen, sagt Rock. Denn die alten Menschen hätten praktisch keine Chance, ihre wirtschaftliche Situation zu ändern. Sie hätten keine finanziellen Rücklagen und sie hätten in der Regel höhere Gesundheitsausgaben. Der Paritätische fordert daher für hilfebedürftige Rentnerinnen und Rentner mindestens 710 Euro im Monat plus die volle Erstattung ihrer Wohnkosten.

Scham verhindert Antragsstellung

Doch viele Rentnerinnen und Rentner, denen Sozialhilfe zusteht, bekommen die staatliche Hilfe erst gar nicht. Das DIW kam in einer Studie zu dem Ergebnis, dass 60 Prozent der Anspruchsberechtigten die Leistungen nicht beantragen und deshalb leer ausgehen. Obwohl die Deutsche Rentenversicherung (DRV) jeden Menschen mit geringen Rentenanwartschaften im jährlichen Rentenbescheid darüber informiert, dass er oder sie Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben könnte, rufen viele ihre berechtigten Forderungen an die Solidargemeinschaft nicht ab. „Die Gründe für die Nichtinanspruchnahme sind vielfältig“, sagt Geyer. Scham, unzureichende Informationen oder auch die Kosten der Antragstellung gehören nach Auffassung des DIW-Forschers dazu.

„Man könnte das Problem lösen, indem bei Beziehern niedriger Renten die gesetzliche Rentenversicherung von Amts wegen prüfen lässt, ob ein Anspruch auf Grundsicherung besteht“, schlägt der Dresdner Wirtschaftsprofessor Joachim Ragnitz vom ifo Institut vor. „Das wäre zwar Mehrarbeit für die Sozialämter“, räumt Ragnitz ein, „würde aber wahrscheinlich zu einer höheren Einzelfallgerechtigkeit führen.“

Menschen, die trotz langjähriger Erwerbstätigkeit und Kindererziehungsjahren eine sehr niedrige Rente erwarten, haben in viele Fällen lediglich Anspruch auf Grundsicherung im Alter, sprich auf Sozialhilfe. Ihre Arbeitsleistung und die eingezahlten Rentenbeiträge zahlen sich also im Alter für sie nicht aus. Es kommt damit zu einer „Gleichstellung von Grundsicherungsbeziehern mit Rentenbeziehern“, wie Professor Ragnitz feststellt. „Sie sollte es nicht geben“, sagte er dem epd.

Großzügige Regelungen in den Niederlanden

Menschen, die sich mit niedrigen Löhnen ihre Rente selbst erarbeitet haben, müssten im Alter mehr Geld haben als Menschen ohne solche Ansprüche an die GRV, meint auch der Paritätische Wohlfahrtsverband. Er fordert deshalb, dass „der bereits bestehende Freibetrag in der Grundsicherung für Einkommen aus privater Vorsorge, der aktuell monatlich bis zu 223 Euro umfasst, auch für Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung Anwendung finden muss“. Dabei müsse jedes Beitragsjahr zählen. Die Mindestdauer von 33 Beitragsjahren, wie es das zum Jahresanfang in Kraft getretene Gesetz zur Grundrente vorschreibt, müsse entfallen.

Johannes Geyer vom DIW weist zum Vergleich auf „großzügige Freibetragsregelungen für Einkommen und Vermögen“ in den Niederlanden hin. Der Nachbarstaat im Westen habe ein Grundrentensystem, in dem die Höhe der Grundrente nicht vom Erwerbsverlauf abhängt. Vielmehr zählen die Jahre, die man in den Niederlanden verbracht hat. Wer 50 Jahre in dem Land gelebt hat, erhält die volle Grundrente.

Alleinstehende bekommen dabei 70 Prozent des Nettomindestlohns gezahlt. Dieser wird jedes Jahr angepasst. In diesem Jahr beträgt die Grundrente monatlich 1.218 Euro, bei Paaren liegen die individuellen Beträge etwas niedriger. Einkommen wird nicht auf die Grundrente angerechnet. In den Niederlanden wird die Grundrente außerdem durch ein breites System von Betriebsrenten ergänzt. „In so einem System gibt es entsprechend wenig einkommensarme Haushalte im Alter - allerdings auch viel mehr Umverteilung durch das Rentensystem als in Deutschland, da die Rentenhöhe nicht von den vorher gezahlten Beiträgen abhängt“, erläutert Geyer.

Für progressive Beitragsgestaltung

Um im deutschen Rentensystem mehr Gerechtigkeit zu erreichen, hält Geyer darüber hinaus eine Reform zur Umverteilung von oben nach unten für sinnvoll: „Dies könnte beispielsweise über eine Sockelrente, also eine absolute Einkommensuntergrenze, und eine progressive Beitragsgestaltung realisiert werden.“ Bei niedrigen Löhnen würden also eingezahlte Rentenbeiträge mit höheren Entgeltpunkten bewertet als bei hohen Gehältern. Das Äquivalenzprinzip in der GRV würde damit weiter aufgeweicht. Ragnitz weist darauf hin, dass dies insofern bereits geschieht, als die Entgeltpunkte in den Bundesländern der früheren DDR seit der Wiedervereinigung „aufgestockt“ werden.

Der Paritätische geht noch einen Schritt weiter. Er spricht sich dafür aus, die Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 6.900 Euro Bruttomonatslohn, bis zu der Rentenbeiträge zu zahlen sind, zu verdoppeln und mittelfristig aufzuheben. „Dabei ist jedoch das Äquivalenzprinzip ab einer bestimmten Grenze zu modifizieren und zusätzliche Beiträge nur noch anteilig als leistungssteigernd anzuerkennen.“ Die Ansprüche besonders einkommensstarker Versicherter würden so verringert, gleichzeitig sollten die Ansprüche ärmerer Versicherter erhöht werden. Dies könne helfen, die aus den unterschiedlichen Lebenserwartungen folgenden Ungerechtigkeiten in der Rentenversicherung zu mindern, meint Experte Rock.

Joachim Ragnitz vom ifo Institut äußert Zweifel, ob eine Umverteilung „überhaupt noch nötig ist, wenn ein immer größerer Anteil der Rente besteuert wird und damit explizit der Progression des Einkommensteuertarifs unterworfen wird“. Der Anteil des Renteneinkommens, der bei Neurentnern besteuert wird, wächst seit 2005 jedes Jahr. In diesem Jahr liegt sein Anteil bei 81 Prozent. Wer 2040 oder später in den Ruhestand geht, muss seine Rente grundsätzlich voll versteuern - und „dann zahlen die ‚reichen‘ Rentner mehr Steuern, was deren Rente schmälert“, erklärt Ragnitz.

Markus Jantzer


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