Bremen (epd). Fast zwei Drittel der Deutschen sind zumindest einmal gegen Corona geimpft - und schon machen sich die ersten Anzeichen von Impfmüdigkeit breit. Die angestrebte Herdenimmunität scheint in weite Ferne zu rücken. Um möglichst viele Menschen mit Impfungen zu erreichen, muss der Staat kreative Wege gehen, aber auch glaubwürdig bleiben, meint der Versorgungsforscher Professor Ansgar Gerhardus vom Institut für „Public Health“ der Universität Bremen. Die Fragen stellte Michael Grau.
epd sozial: Herr Professor Gerhardus, seit sieben Monaten impfen wir in Deutschland gegen Corona. Welche ersten Lehren lassen sich ziehen?
Ansgar Gerhardus: Die wichtigste Lehre ist, dass Vertrauen das höchste Gut ist, das wir bei einer bevölkerungsweiten Impfkampagne haben. Und Vertrauen haben die Menschen dann, wenn die Impfempfehlungen auf höchster Kompetenz und auf Unabhängigkeit beruhen. Wir haben in Deutschland das Glück, dass wir mit der Ständigen Impfkommission (Stiko) genau eine solche Institution haben. Die sollten die Politiker öffentlich stärken.
epd: Sollte der Staat auch wieder stärker selbst die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung übernehmen, so wie es früher der Fall war, als ganze Schulklassen etwa gegen Polio geimpft wurden?
Gerhardus: Wir sollten jede Schiene nutzen, die zur Verfügung steht. Denn viele Menschen haben ja keinen Hausarzt oder zumindest keinen Kontakt zu ihm - etwa Studierende oder jüngere Menschen allgemein. Oder auch Menschen, die aus dem Ausland kommen. Deshalb braucht es auch Angebote, die die Menschen dort aufsuchen, wo sie leben, arbeiten oder lernen.
epd: Also muss der Staat dort selbst aktiv werden?
Gerhardus: Auf jeden Fall. Die Politik sollte sich das Ziel setzen, dass so viele Menschen wie möglich in Deutschland geimpft werden. Dieses Ziel kann sie nicht delegieren an die Kassenärztliche Vereinigung oder die Hausärzte. Es hilft sicher, wenn man es den Menschen so einfach wie möglich macht, sich impfen zu lassen. Es reicht aber nicht, einfach dort hinzugehen, wo die Menschen sind, sondern wir müssen sie ja auch überzeugen. Und da kommen wir wieder auf das Vertrauen zurück, denn nicht jeder kennt die Stiko und nicht jeder vertraut ihr. Deshalb müssen wir mit Multiplikatoren oder mit Vermittlern zusammenarbeiten, die dieses Vertrauen der Menschen bereits haben.
epd: Haben die Bürger mehr Vertrauen in eine Impfung, wenn sie von einer nichtstaatlichen Organisation wie dem Roten Kreuz vorgenommen wird?
Gerhardus: Ich denke, es ist bei jedem Menschen anders, wem er vertraut. Das kann der Staat sein, das Rote Kreuz, der Hausarzt, die Schule oder auch eine religiöse Institution. Es lohnt sich sicher, auch über Informationen in Kirchen und Moscheen nachzudenken. Gerade Leute, die aus anderen Ländern kommen, haben nicht die besten Erfahrungen mit dem Staat gemacht. Das ist oft der Grund, warum sie geflüchtet sind. In Deutschland haben sie vielleicht Erfahrungen mit der Ausländerbehörde oder der Polizei gemacht. Da ist dann ist das Vertrauen in staatliche Organisationen oft geringer.
epd: Sollten Impfteams wieder verstärkt an die Schulen gehen?
Gerhardus: In den Schulen muss man abwägen. Wenn klar ist, dass die Eltern rechtzeitig informiert werden und ihr Einverständnis geben, ist das in Ordnung. Es sollte aber nicht der Eindruck entstehen, dass dort Kinder quasi überfallen werden. Die uneingeschränkte Impfempfehlung der Stiko gilt ja sowieso erst für Jugendliche ab 16. Da würde ich der Stiko weiter vertrauen. Bei den Jüngeren ist es im Moment noch zu früh, systematisch an die Schulen zu gehen.
epd: Und wie sehen sie die Impfmobile, die jetzt überall unterwegs sind, zum Beispiel an sozialen Brennpunkten?
Gerhardus: Impfmobile sind großartig, weil sie eine Anlaufstelle sind für Leute, denen es vielleicht zu kompliziert ist, sich per Internet an einem Impfzentrum anzumelden oder die vielleicht einfach zu bequem dafür sind. Da kann ich einfach mal so mit der Nachbarin hingehen, die vielleicht für mich übersetzt. Wichtig ist nur: Eine Impfung ist ein medizinischer Eingriff. Deshalb müssen dort gut ausgebildete Leute sein, und die Vertraulichkeit muss gewährleistet sein. Denn was ist, wenn jemand umkippt oder es zu einer allergischen Reaktion kommt? Ich warne davor, dass sich einzelne Ärzte jetzt einfach so auf den Supermarkt-Parkplatz stellen. Die Grundsätze für eine gute medizinische Behandlung müssen auf jeden Fall eingehalten werden.
epd: Ist es aus Ihrer Sicht eine „Bürgerpflicht“, sich impfen zu lassen?
Gerhardus: Es ist wichtig, auch auf den Aspekt der Solidarität hinzuweisen. Die allermeisten Menschen werden sich aber impfen lassen, um sich selbst und vielleicht noch ihre Angehörigen und Freunde zu schützen. Ich würde immer versuchen, auf die Vorteile einer Impfung hinzuweisen. Denn wenn man zu sehr an das Pflichtgefühl appelliert oder es zu einer Pflicht macht, dürfte das zumindest in unserer Kultur in Deutschland Widerstand hervorrufen.
epd: Manche Menschen haben vielleicht auch einfach nur Angst vor einer Impfung oder verstehen die Sprache nicht. Wie kann man die erreichen?
Gerhardus: Das ist eine sehr heterogene Gruppe, insofern gibt es nicht die eine Zauberformel. Es geht aber in fast allen Fällen um Vertrauen und teilweise auch um Wissen. Wenn wir versuchen, die Leute unabhängig von ihren Gründen einfach nur zu überreden, wird das Misstrauen erzeugen. Wir müssen viele Fragen stellen und versuchen herauszufinden, welche Gründe sie jeweils haben, sich nicht impfen lassen. Dann muss man das gemeinsam durchgehen und schauen, welche Gründe möglicherweise berechtigt sind. Ein gutes Beispiel sind Schwangere: Jede Frau, die schwanger ist, ringt ja mit sich, ob sie sich impfen lassen soll oder nicht. Und dann muss man auch ganz ehrlich auf die im Moment noch große wissenschaftliche Unsicherheit in diesem Bereich hinweisen und auch akzeptieren, wenn Leute sich im Einzelfall nicht impfen lassen wollen. Es wird aber immer Leute geben, die nicht erreichbar sind und sich nicht überzeugen lassen.