Melanie Hartmann ist Referentin für Armutspolitik und Bahnhofsmission bei der Diakonie Hessen. Sie begrüßt zwar das Aufholpaket der Bundesregierung für Kinder, die die Pandemie weiter zurückgeworfen hat. Doch das habe mit struktureller Politik gegen Kinderarmut nichts zu tun, sagt sie. „Die Einführung einer Kindergrundsicherung wäre sicher das wirksamste Gegenmittel. Ich hoffe sehr, dass die neue Bundesregierung das umsetzen wird.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Seit Jahren beklagen Sozialverbände die wachsende Kinderarmut in Deutschland. Jetzt hat die Pandemie die Lage verschärft. Wie ist die aktuelle Situation?
Melanie Hartmann: Aus der Forschung und unserer praktischen Arbeit wissen wir, dass Kinderarmut die Wahrscheinlichkeit von Entwicklungsdefiziten, Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung signifikant erhöht. Das hinterlässt Spuren bis ins Erwachsenenalter. Durch die Pandemie und den langen Lockdown werden diese Effekte weiter verstärkt. Kinder, die beispielsweise in beengten Wohnungen ohne eigenes Zimmer leben, haben es im Homeschooling besonders schwer. Hinzu kommen höhere Kosten für die Familien durch die Pandemie - etwa durch den Ausfall von Schulmittagessen, Kosten für Masken oder die Schließung von Gebrauchtwarenläden.
epd: Der Bund hat ein milliardenschweres Aufholpaket für Kinder und Jugendliche gestartet, die von den Folgen der Pandemie etwa durch Schulausfall weiter abhängt wurden. Wie bewerten Sie das Programm?
Hartmann: Dieser Ansatz hat Licht und Schatten. Einerseits begrüßen wir, dass durch das Programm die vielen zurückgestellten Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie wieder sichtbarer werden. Dazu gehört das Aufholen von Lernrückständen genauso wie die Förderung von sozialer Entwicklung. Das Programm ist aber nicht darauf ausgelegt, armutsbetroffene oder benachteiligte Familien nachhaltig zu unterstützen. Immerhin ist der einmalige „Freizeitbonus“ von 100 Euro für bedürftige Kinder ein Bekenntnis dazu, dass sie überdurchschnittlich von den Folgen der Krise betroffen sind. Neben diesem - eher symbolischen - Bekenntnis bräuchte es aber auch zusätzliche und nachhaltigere Unterstützung von benachteiligten Familien, zum Beispiel durch die Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung.
epd: Fließt denn schon Geld und wie können auch die diakonischen Anbieter etwa von Kinder- und Jugendfreizeiten profitieren?
Hartmann: Aktuell fließt noch kein Geld, für manche Förderbereiche auf Bundesebene laufen derzeit die Antragsverfahren. Ein Teil des versprochenen Geldes soll auch über die Länder vergeben werden. Wir hoffen, dass das hessische Sozialministerium bald Informationen zur Verfügung stellt, was genau von den Trägern beantragt werden kann.
epd: Alles blickt vor allem auf schulische Angebote der Nachhilfe. Doch es geht doch auch um psychische und gesundheitliche Probleme, um Folgen von Bewegungsmangel und Vereinsamung. Gibt es hier genügend passende Angebote?
Hartmann: Wir wünschen uns, dass es bei der Vergabe der Mittel, auch aus dem Landesprogramm „Löwenstark“, keine Engführung auf klassische schulische Lernrückstände gibt, sondern dass die bestehenden non-formalen Bildungsangebote unbedingt bedacht werden. Das Geld sollte möglichst flexibel vor Ort ankommen. Dazu sollte ein guter Teil der Mittel direkt den Kommunen und freien Träger der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden.
epd: Das Programm ist bis 2022 begrenzt, Kinderarmut dann aber keineswegs verschwunden. Welche neuen Schritte erwarten Sie von einer künftigen Bundesregierung?
Hartmann: Hier hoffen wir schon auf wirklich nachhaltiges Engagement. Das lässt sich nicht in wenigen Monaten erreichen. Hauptursache für Kinderarmut und die damit verbundenen fehlenden Teilhabemöglichkeiten ist der Mangel an Einkommen und Vermögen in den Familien. Hier wäre die Einführung einer Kindergrundsicherung sicher das wirksamste Gegenmittel. Ich hoffe sehr, dass die neue Bundesregierung das umsetzen wird.
epd: Wo wären noch Reformen nötig?
Hartmann: Weil Armut auch mit anderen Lebenslagen wie Wohnen oder Bildung korrespondiert, muss man auch hier ansetzen, sollen die Kinder mittelbar davon profitieren. Die nächste Bundesregierung sollte zum Beispiel dafür sorgen, dass Wohnraum vor allem in Ballungszentren wieder bezahlbar wird und nicht große Teile des Einkommens verschlingt. Zudem müssen die in der Grundsicherung vorgesehenen Leistungen für Wohnen auch die tatsächlich zu zahlenden Mieten abdecken. Außerdem gibt es viel Nachholbedarf bei der Bildungsgerechtigkeit. Im OECD-Vergleich hängen in Deutschland die Bildungschancen von Kindern überdurchschnittlich stark vom sozialen Hintergrund der Eltern ab. Das lässt sich nicht mit ein paar Ferienprogrammen ändern, sondern erfordert eine umfassende, armutssensible Weiterentwicklung aller schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen.
epd: Wenn es mehr Geld für Kinder gibt, lässt sich dann auch sicherstellen, dass es wirklich beim Nachwuchs ankommt?
Hartmann: Dass Eltern dieses Geld statt in ihre Kinder in den eigenen Konsum stecken, ist leider ein weit verbreitetes Vorurteil. Studien zeigen, dass diese Vorwürfe für den Großteil der Familien unhaltbar sind. Das Geld kommt sehr wohl bei den Kindern an. Was die Stärkung nicht-materieller Ressourcen von Familien angeht, werben wir als Diakonie Hessen für die flächendeckende Einführung von kommunalen Armutspräventionsketten in Hessen, so wie das in einigen Bundesländern bereits der Fall ist.
epd: Wie funktioniert das?
Hartmann: Diese Präventionsketten sind fest installierte und systematisierte Netzwerke in den Kommunen, in denen alle relevanten Akteure zusammenwirken, um armutsbetroffene Familien zu stärken und Kinder in ihrem Entwicklungsprozess von der Geburt bis zum Einstieg in den Beruf zu begleiten. Von der Hebamme über Ansprechpartnerinnen in Kitas und Schulen bis hin zu Akteuren der Jugendarbeit - um nur einige zu nennen - erfahren die Familien und ihre Kinder kontinuierliche Begleitung, Beratung und Unterstützungsangebote. Risiken, die für armutsbetroffene Kinder beispielsweise im Übertritt von Kita zur Schule oder von der Schule ins Berufsleben bestehen, werden durch solche Präventionsketten abgefedert. Es gibt da bereits viele gute Erfahrungen.
epd: Die Kinder- und Jugendarbeit auf kommunaler Ebene ist unterfinanziert. Braucht es hier nicht auch ein radikales Umdenken?
Hartmann: In der Armutsprävention kommt der kommunalen Kinder- und Jugendarbeit eine zentrale Rolle zu. Mancherorts wird hier auch schon viel getan. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass aufgrund leerer Kassen durch die Pandemie zumindest an den „freiwilligen Leistungen“ der Kinder- und Jugend(sozial)arbeit gespart wird. Dabei ist gerade jetzt eine Investition in diese Infrastruktur überaus wichtig. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass Kommunen kostenlose Räumlichkeiten für die Gemeinwesenarbeit und die Kinder- und Jugendarbeit zur Verfügung stellen, um somit gerade für benachteiligte junge Menschen außerschulische Lern-, Bildungs- und Begegnungsorte zu ermöglichen.
epd: Die Diakonie Hessen ist gegen Kinderarmut aktiv. Es gibt spezielle Hilfen, etwa durch eine Stiftung. Wo setzen Sie an und wie kommen die Hilfen an die Adressaten?
Hartmann: Der Stiftungsfonds DiaKids der Landesdiakonie engagiert sich seit zehn Jahren in der Familienhilfe. Wir fördern nicht nur Projekte zur Unterstützung von Kindern und Familien in unmittelbaren Notlagen, sondern stärken Kinder mit ganz konkreter Hilfe wie zum Beispiel mit Schulranzen zur Einschulung, mit Kinderwinterstiefeln, mit Sportschuhen, Schwimmunterricht oder mit einem gesunden Frühstück.
epd: Wie kommt die Stiftung in Kontakt zu benachteiligten Kindern?
Hartmann: Das funktioniert, weil sie ist eingebunden ist in das diakonische Netzwerk mit seinen Tafeln, Ausgabestellen und regionalen Beratungsstellen. Damit hat DiaKids den direkten Zugang zur sozialen Arbeit vor Ort. Wir kümmern uns um die Beschaffung der Hilfsmittel und stellen die gerechte Verteilung vor Ort sicher. Aktuell unterstützen wir zum Beispiel in Zusammenarbeit mit einem Diakonischen Werk ein ökumenisches Schul-Tafel-Projekt, bei dem 250 Kinder aus bedürftigen Familien mit Schulranzen, Mäppchen und Turnbeutel zum Schulstart ausgestattet werden.
epd: All das braucht auch Geld, also auch Spenden. Wie haben sich die Einnahmen in der Pandemie entwickelt? Können Sie die Unterstützung wirklich merklich ausweiten?
Hartmann: Die Diakonie Hessen konnte in der Corona-Zeit bisher mehr als zwei Millionen Euro an zusätzlichen Geld- und Sachspenden sowie Fördermittel von der Aktion Mensch generieren, etwa um Bedürftigen oder Wohnungslosen gezielt zu helfen. Es ist durch viel kreativen Einsatz gelungen, das Hilfesystem in der Krise weitgehend aufrecht zu erhalten. Dankbar sind wir für die große Unterstützung unserer Aktion „Corona-Nothilfe gegen Armut“, die wir von sehr vielen Privatpersonen, von Banken und vor allem auch vom Fußballclub Eintracht Frankfurt erhielten. Mit diesen Mitteln wurden gezielt armutsbetroffene Personen im Bereich der Diakonie Hessen unterstützt. Doch wir brauchen weiter Spenden, weil nun viele Folgen der Pandemie ans Licht kommen, die besonders benachteiligte Familien treffen.