Würzburg/Schönbrunn (epd). Das Ideal „Inklusion“ wird in Bayern so lange graue Theorie sein, wie Menschen mit Handicap in großen Einrichtungen leben - davon sind einige Aktivisten der Inklusionsbewegung fest überzeugt. „Auch wir setzen uns für die Konversion von Komplexeinrichtungen ein“, sagt Lena Simoneit vom Diakonischen Werk Bayern. Dennoch könne nicht vollständig auf diese Einrichtungen verzichtet werden. Nicht für alle Bewohner gebe es passende Alternativen. Vor allem aber fehlt zur Umwandlung Geld.
Politikern wird mitunter vorgeworfen, dass sie gern salbungsvoll über Inklusion reden, aber wenig dafür tun. Simoneit, die bei der Diakonie Bayern für die Behindertenhilfe zuständig ist, relativiert: „Der Freistaat hat bereits viel Geld in Konversionsprojekte investiert.“ Bis 2038 sollen zusätzlich 400 Millionen Euro aus einem Sonderinvestitionsprogramm bereitgestellt werden. Laut Simoneit geht aus einer Erhebung hervor, dass für die Umwandlung über eine Milliarde Euro nötig wäre.
Wer im Heim lebt, muss sich den Notwendigkeiten der Einrichtung unterordnen. Man ist eingebunden in eine Struktur, man ist nicht völlig frei. Viele Einrichtungen wünschen sich deshalb die Konversion. Doch die Sache sei nicht so leicht, sagt Johannes Spielmann vom Würzburger Blindeninstitut: „Derzeit kommen wir nicht mal mit den Neubauten nach.“ Der Bedarf sei groß. Um ihn zu decken, will die Stiftung bauen.
Experten fordern in der Konversionsdebatte einen realistischen Blick. Michaela Streich, Geschäftsführerin des Franziskuswerks Schönbrunn bei Dachau, sagt dazu: „Dezentralisierung ist kein Allheilmittel.“ Dennoch bemüht sich auch ihre Einrichtung, dezentrale Wohnangebote zu schaffen. Ungelöst sei dabei die Frage, wie Gebäude, die durch Dezentralisierung frei werden, künftig genutzt werden können.
Inwieweit steigt nun die Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, sich mehr zu verwirklichen, wenn sie außerhalb einer stationären Komplexeinrichtung leben? Ganz erheblich, berichten Bewohner einer 1981 gegründeten Außenwohngruppe der Blindeninstitutsstiftung im Würzburger Stadtteil Lengfeld. Matthias Berberich liebt es, Fußball mit den Nachbarskindern zu spielen. Winfried Knör, ebenfalls 56 Jahre alt, hat früher in der Lengfelder Kirche ministriert. Beides wäre undenkbar, wäre das Blindeninstitut selbst der Wohnort der beiden gewesen.
Es war vor 40 Jahren ein großer Sprung in Sachen Inklusion, als die Außenwohngruppe eröffnet wurde, erzählt Blindeninstituts-Sprecherin Sabine Tracht. Die damals angestoßene Entwicklung setze sich nun mit dem Projekt in Kitzingen fort: Erstmals sollen schwerstmehrfachbehinderte Menschen dezentral leben. Dass sie von der neuen „Freiheit“ ebenso profitieren wie etwa Berberich und Knör, ist nicht zu erwarten. Doch es gehe um mehr: Darum, dass es normaler wird, mit schwerstbehinderten Menschen Tür an Tür zu leben.
Ob bei einer Dezentralisierung wirklich alles nach Wunsch läuft, kann vorher niemand sagen. Im Falle der Lengfelder Außenwohngruppe war es so: Die Bewohner fanden schnell Kontakt zu ihren neuen Nachbarn, zu Vereinen, zur Pfarrei. Auch in der Gaststätte des Stadtteils, erzählt Sozialpädagogin Christine Seufert-Fürst, waren sie sofort willkommen. Es gehöre aber auch eine Portion Glück dazu, dass Integration vor Ort gelingt. Das Schicksal kann auch engstirnige, mit Vorurteilen beladene Nachbarn bescheren, berichtet sie.
Von den 285 erwachsenen Klienten der Blindeninstitutsstiftung leben aktuell 14 in zwei Außenwohngruppen und 17 im ambulant unterstützten Wohnen. 254 leben in Wohngruppen auf dem Gelände. Gerade für sehr schwer behinderte Menschen, sagt Sabine Tracht, biete die große Einrichtung aufgrund ihrer ausgefeilten Therapieangebote Vorteile. Komplexeinrichtungen sind zwar nicht inklusiv, aber manchmal sei es besser für Bewohner, dort statt irgendwo zu leben, sagt auch Andreas Ammon von den Rummelsberger Diensten.
Der Leiter der Komplexeinrichtung „Auhof“ in Hilpoltstein hat zum Beispiel einen Bewohner vor Augen, der es liebt, alleine durch das Areal des Auhofs zu streifen. „Draußen“ aber würde der Straßenverkehr eine Gefahr darstellen. Jedes Mal eine Begleitung zu organisieren, wäre personell nicht möglich. Der Mann würde eine Begleitperson auch gar nicht ständig um sich haben wollen. Er will frei seine gewohnten Wege gehen. Prinzipiell stelle sich die Frage, ob jeder Heimbewohner einen Ortswechsel brauche oder wirklich wolle.
Um das herauszufinden, startete im „Auhof“ ein aufwendiges Fall-Management. „240 unserer Klienten sprachen sich dafür aus, weiter in unseren geschützten, gleichzeitig aber auch offenen Strukturen wohnen bleiben zu wollen“, berichtet Ammon.