Luxemburg (epd). Deutschland darf beim Gewähren internationalen Flüchtlingsschutzes nicht zu strenge Maßstäbe ansetzen und drohende Gefahren von Flüchtlingen bei einer Abschiebung in deren Herkunftsland ausblenden. Ob sie bei einer Rückkehr „willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ fürchten müssen, darf nicht allein von einer Mindestzahl an zivilen Opfern abhängig gemacht werden, urteilte am 10. Juni der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Dieses deutsche Vorgehen verstoße gegen EU-Recht. Erforderlich sei vielmehr eine Gesamtwürdigung des Gewaltniveaus in dem Herkunftsland.
Wird ein Asylantrag von Flüchtlingen abgelehnt, ist nach deutschem und EU-Recht eine Abschiebung dennoch verboten, wenn Leib und Leben Betroffener bedroht sind - etwa wegen drohender Todesstrafe oder Folter. Auch bei „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ kann demnach eine Abschiebung verboten sein. Flüchtlingen steht dann sogenannter subsidiärer Schutz zu. Dieser ist - anders als bei einer regulären Flüchtlingsanerkennung - allerdings mit Einschränkungen beim Recht auf Familiennachzug verbunden.
Im aktuellen Rechtsstreit waren die beiden Kläger aus der afghanischen Provinz Nangarhar nach Deutschland geflohen. Nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wurde, beantragten sie internationalen „subsidiären“ Schutz. Ihnen drohe bei einer Rückkehr wegen des anhaltenden Krieges zwischen den Taliban und der afghanischen Armee „willkürliche Gewalt wegen eines bewaffneten Konfliktes“.
Doch die deutschen Behörden waren von dieser Argumentation nicht überzeugt, lehnten den Antrag ab und drohten die Abschiebung an. Es gebe für die Annahme der beiden Kläger zu wenige zivile Opfer in der Provinz, hieß es zur Begründung.
Hintergrund dieses Argumentes war unter anderem ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. November 2011 im Fall eines irakischen Flüchtlings. Danach sei zumindest dann von keiner willkürlichen Gewalt wegen eines bewaffneten Konfliktes auszugehen, wenn die Zahl der zivilen Opfer (Verletzte und Tote) nur einer von 800 pro Jahr oder nur 0,12 Prozent von der Gesamtbevölkerung beträgt. Die Zahl ziviler Opfer in der afghanischen Provinz Nangarhar falle gerade noch in diesem Bereich, so die Behörden.
Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hielt das für EU-rechtswidrig. Neben dem vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten „body-count“-Ansatz müssten auch andere Umstände bei der Prüfung willkürlicher Gewalt berücksichtigt werden. so die Richterinnen und Richter.
Der EuGH urteilte nun, dass das deutsche Vorgehen gegen EU-Recht verstößt. Statt die „ernsthafte individuelle Bedrohung“ eines Flüchtlings in seinem Herkunftsland allein anhand einer Mindestzahl an Opfern zu bestimmen, müsse vielmehr eine Gesamtwürdigung aller Umstände erfolgen. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass Flüchtlingen ein Schutz vorenthalten werde, obwohl sie eigentlich darauf Anspruch hätten. Das Adjektiv „individuell“ sei hier so zu verstehen, dass Flüchtlinge bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland allein wegen ihrer Anwesenheit tatsächlich Gefahr laufen, einer ernsthaften Bedrohung und willkürlicher Gewalt ausgesetzt zu sein.
Hier sei die Gefahrenlage in Nangarhar auch durch die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, die Dauer des Konflikts zwischen der Armee und anderen bewaffneten Gruppen, die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen oder auch das „geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt“ geprägt. Werde das bei der Prüfung des subsidiären Schutzes nicht berücksichtigt, könne Personen den ihnen zustehenden Schutz EU-rechtswidrig verweigert werden, mahnte der EuGH.
Die Luxemburger Richter betonten, dass die EU-Staaten auch dieselben Maßstäbe bei der Prüfung internationalen subsidiären Schutzes anlegen müssten. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass Flüchtlinge bestimmte Mitgliedstaaten als Zielort meiden, die in ihren Rechtsvorschriften besonders strenge Prüfkriterien anlegten.
Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl wertete das EuGH-Urteil als „wegweisend“. Flüchtlinge aus umkämpften Regionen wie etwa Nangarhar oder Kundus in Afghanistan könnten nun leichter subsidiären Schutz wegen drohender willkürlicher Gewalt erhalten. Auch wenn eine bestimmte Mindestanzahl an Zivilopfern nicht erreicht werde, müssten nun auch andere Gefährdungsumstände berücksichtigt werden.
„Abschiebeflüge nach Afghanistan dürften nun schwieriger durchzuführen sein“, so Peter von Aue, rechtspolitischer Referent bei Pro Asyl. Eine Abschiebung sei aber immer noch möglich, wenn der Flüchtling in einer anderen, weniger gefährlichen Provinz seines Herkunftslandes seinen Lebensunterhalt nachgehen kann.
Az.: C-901/19 (EuGH)
Az.: 10 C 13.10 (Bundesverwaltungsgericht)
Az.: A 11 S 2374/19 und A 11 S 2375/19 (VGH Mannheim, EuGH-Vorlage)