Bremen (epd). Rhythmische Beats schallen über die Hood-Anlage im Bremer Stadtteil Lüssum. Dana, Rawia, Leonad, Liloz, Justin und all die anderen, vielleicht 20 Mädchen und Jungen, klettern an den Reckstangen, hangeln, probieren Klimmzüge, laufen um die Wette. „Kommt, wir fangen gemeinsam an“, ruft Stefan Kavarov in das Gewusel. Nichts passiert. „Hey, es geht los“ wiederholt er, diesmal mit mehr Power in der Stimme - und mit Erfolg. Alle kommen zusammen, im Kreis lassen sie Kopf und Arme kreisen, schütteln die Beine aus, beugen den Oberkörper, legen kurze Spurts hin. Aufwärmen ist angesagt.
Stefan Kavarov, 21, engagiert sich als Leiter beim Hood-Training, einem schon mehrfach ausgezeichneten Projekt, das Kinder und Jugendliche mit Sport, Bildung, Kunst und Kultur unterstützt. Hier in seiner „Hood“, seinem Kiez, kennt er jede Straße und die meisten Kinder. „Ich bin im Hochhaus neben der Hood-Anlage aufgewachsen, bin vor acht Jahren mit meinen Eltern aus Bulgarien nach Lüssum gekommen“, erzählt der Modedesign-Student.
Der Stadtteil liegt am nördlichen Rand von Bremen, 13.000 Einwohner aus 41 Ländern. Früher sprachen viele von einem sozialen Brennpunkt. Heute ist es ein Schmelztiegel der Nationen, ein „Ankunftsquartier“, wie Quartiersmanagerin Heike Binne sagt. Die meisten Geflüchteten, die Bremen aufnimmt, kriegen hier ihre erste Wohnung. „Integrationsarbeit ist unsere wichtigste Aufgabe“, betont Binne. Dabei hilft das Hood-Training: Sport, der mit niedriger Corona-Inzidenz in Lüssum verlässlich an drei Abenden in der Woche angeboten wird, ohne Mitgliedschaft, kostenlos. Einfach hingehen, mitmachen.
Und die Kids machen an diesem Abend begeistert mit, flitzen im Wettbewerb Team gegen Team durch die Hood-Anlage. Die besteht vor allem aus Stangen, mal tiefer, mal höher gehängt: Übungsgeräte für Calisthenics, eine Sportart, die nicht nur Kraft bringt, sondern die Koordination ganzer Muskelgruppen trainiert. „Go, go, go“, feuert Stefan Kavarov die Kinder an, die gerade Übungen an unterschiedlichen Stationen absolvieren. „Komm, nicht aufgeben, halten, halten, halten“, macht Kavarov der elfjährigen Liloz Mut, die zusammen mit anderen an Reckstangen baumelt. Wer hält sich am längsten?
Er wolle Vorbild sein, so etwas wie ein großer Bruder, sagt Kavarov, der tatsächlich viel mehr ist als nur ein Trainer: „Wenn die Kinder Probleme haben, bin ich für sie da“, sagt er. Das klappt, der Zulauf ist riesig. Ja, Stefan sei ein echtes Vorbild, „weil er sein Leben auf die Reihe kriegt“, sagt Daniel Magel, Initiator des Hood-Trainings. Als Zwölfjähriger ist Magel mit seinen Eltern aus Kasachstan nach Deutschland gekommen, hatte eigentlich „Gold auf der Straße“ erwartet. „Alles fresh - so habe ich mir das hier vorgestellt“, erinnert sich der heute 38-Jährige.
Es kam anders: Tatsächlich landete er in Tenever, einem Quartier in Bremen, in dem Drogen, Gewalt und Kriminalität zum Alltag gehörten. „Das war ein echter Absturz“, blickt er zurück. Aber es blieb nicht dabei. Magel und seine Clique gründeten eine Initiative, die beweisen wollte, dass es in der Hood auch engagierte Jugendliche gibt, die Zeit und Lust haben, etwas auf die Beine zu stellen. „Wir hatten Hunger, wollten zeigen, was in uns steckt“, sagt Magel.
„Der Sport“, ist er überzeugt, „hat mir den Arsch gerettet.“ Klimmzüge, Liegestütz, Handstand, Aufschwünge und Barrenstütz statt Mist bauen. Hood-Training wolle die Kids von der Straße holen, auch weg von den Smartphones, vom Zocken vor dem Computer, beschreibt Magel. Mit ihm hat das Projekt nach gut zehn Jahren mittlerweile in vielen Bremer Stadtteilen, im niedersächsischen Umland und sogar in Berlin und München Fuß gefasst. Überall geht es um Orte, die benachteiligten Kindern und Jugendlichen einen Rückhalt bieten wollen, an denen Fähigkeiten entwickelt werden können. Und Gemeinschaft erlebt wird.
Das Hood-Training vermittele Werte wie Solidarität, Kameradschaft, Verlässlichkeit, meint Joachim Barloschky, der in den Anfängen des Jugendhilfeprojektes Quartiersmanager in Tenever war und ein Weggefährte für Magel blieb. „Daniel ist nah an den Jugendlichen dran, er spricht ihre Sprache und zeigt, wo es langgeht: Pass auf dich auf, denk an deinen Körper - und setze ihn fair ein.“
Magel betont, immer gehe es im Training um Respekt: „Respekt vor mir, vor meinem Team, vor meinem Trainer, vor der Gesellschaft.“ Sport als Lifestyle, coole Geräte, Präsenz auf Social-Media-Plattformen, dazu die Chance, Videos zu drehen, bei Graffiti- und Rap-Workshops mitzumachen: Das ist das Umfeld, das Kinder und Jugendliche anzieht und für das er brennt.
„Die Zeit ist zu kurz, das Leben ist zu kurz“, meint der junge Mann, der immer in Aktion ist. Ein Macher, der gerade selbst Vater geworden ist und nun in Lüssum einen dieser kleinen Erfolge miterlebt, für die sich alle beim Hood-Training so sehr einsetzen: Die elfjährige Liloz hat es geschafft, hing die längste Zeit an einer Reckstange, trotz schmerzender Muskeln. Nun ist sie die Siegerin. Mit strahlenden Augen.