sozial-Branche

Gesundheit

Gastbeitrag

Nur solidarische Krankenversicherung ist zukunftsfest




VdK-Präsidentin Verena Bentele
Der Sozialverband VdK hält das zweigeteilte System der deutschen Krankenversicherung für überholt. Warum das so ist und welche Reformwege beschritten werden müssten, beschreibt VdK-Präsidentin Verena Bentele in ihrem Gastbeitrag.

Berlin (epd). Nirgendwo in Europa ist die Krankenversicherung so streng in eine gesetzliche und eine private getrennt wie in Deutschland: ein Zweiklassen-System, das seinesgleichen sucht. Zehn Prozent der Deutschen sind privat versichert, 90 Prozent gesetzlich.

Die privaten Versicherungsunternehmen wählen ihre Mitglieder sorgfältig aus. Sie nehmen junge, gesunde und leistungsfähige Menschen auf, die gut verdienen und wenig kosten. Wer gesundheitlich beeinträchtigt ist und hohe Kosten verursacht, hat wegen der hohen Versicherungsbeiträge keine Chance. Die gesetzliche Krankenversicherung versichert jeden, und sie garantiert jedem Leistungen. Nicht nur den Normal- und Geringverdienern, die einzahlen, sondern auch deren Familienmitgliedern.

Die Beiträge richten sich nach den finanziellen Möglichkeiten, nicht nach Alter und Behinderung. Basis ist das Solidarprinzip: Wer zahlen kann, finanziert diejenigen in der Gesellschaft mit, die gesundheitlich angeschlagen sind. Und das ist richtig so.

Gutverdiener entziehen sich

Viele Gut- und Spitzenverdiener entziehen sich dem Solidarprinzip. Das geht auf Kosten der Gemeinschaft: Die Bertelsmann Stiftung hat Anfang 2020 berechnet, dass die Beiträge deutlich sinken könnten, wenn alle gesetzlich versichert wären. Derzeit zahlt jeder gesetzlich versicherte Durchschnittsverdiener zusammen mit seinem Arbeitgeber im Jahr 145 Euro Beiträge dafür, dass sich zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger nicht am Solidarsystem beteiligen. Diese zehn Prozent profitieren aber davon, dass die 90 Prozent gesetzlich Versicherten für die Grundstruktur von ambulanter und stationärer Versorgung sorgen, dass es überhaupt Krankenhäuser und Arztpraxen gibt.

Um Abhilfe zu schaffen, muss es eine einheitliche, eine solidarische Krankenversicherung geben, in die alle einzahlen: auch Selbstständige, Beamte, Politikerinnen und Politiker. Privatversicherte sollten sich nicht länger entziehen dürfen.

Beide Systeme zusammenzuführen, ist eine gewaltige Aufgabe. Das geht nicht von heute auf morgen, Zwischenschritte sind notwendig. Dazu gehört zum Beispiel, dass alle Beamten auch in die gesetzliche Krankenversicherung können und ihr Dienstherr einen Zuschuss dafür zahlt. Die Grünen im Bundestag haben einen Beitrag der privat Versicherten vorgeschlagen, der vom Einkommen abhängen und in den Gesundheitsfonds fließen soll. Darüber lässt sich reden, wenn eines klar ist: Das kann maximal ein erster Schritt sein. Das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung wird immer eine Zwei-Klassen-Versorgung fördern.

Dünne ärztliche Versorgung

Das Gesundheitssystem benachteiligt alle, die wenig Geld verdienen. Nur wer über ein gutes Einkommen verfügt, kann sich im Fall des Falles auch Zuzahlungen für Medikamente, Aufzahlungen bei Hilfsmitteln, oder nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel leisten. Dabei ist die Gesundheitsversorgung Teil der Daseinsvorsorge. Ist sie medizinisch notwendig, muss sie bezahlt werden. Ohne Ausnahmen. Gesundheit darf kein Luxus sein. Deshalb müssen alle Zu- und Aufzahlungen, Leistungsausgrenzungen und Beschränkungen auf Festzuschüsse abgeschafft werden. Das wird Geld kosten. Wenn aber auch Gut- und Spitzenverdiener in eine einheitliche, solidarische Krankenversicherung einzahlen, ist dies zu stemmen.

In strukturschwachen Regionen wird die ärztliche Versorgung immer dünner. Im Jahr 2019 waren dort im Vergleich zu Städten oder Stadtteilen mit vielen Privatpatienten nur bis zu einem Viertel der Ärzte und Psychotherapeuten angesiedelt. Mit einer solidarischen Krankenversicherung und einer einheitlichen Vergütung ließen sich diese Unterschiede ausgleichen. Aber als Anreiz braucht es zum Beispiel einen Landarztzuschlag, Stipendienprogramme oder gute Arbeitsbedingungen mit familiengerechten Arbeitszeiten. Und noch mehr: Ohne Schulen, Kitas oder kulturelle Angebote lässt sich keine Medizinerin und kein Mediziner in einer strukturschwachen Region nieder.

Für den Notfall und für einfache Eingriffe braucht es eine flächendeckende Versorgung mit Krankenhäusern. Bei komplizierten Fällen, wie Kniegelenk-OPs oder Schlaganfall-Behandlungen, muss es einen Standard an Erfahrung und Qualität geben. Das geht nur über Mindestmengen.

Bedarfe wichtiger als Gewinne

Die Krankenhäuser handeln unter hohem finanziellen Druck: Betten belegen, teure Eingriffe durchführen und kostspielige technische Geräte oft nutzen, heißt die Maxime. Alles, was wenig Geld bringt wie Beratungsgespräche, wird seltener erbracht. Personal für unplanbare Ereignisse wird nicht vorgehalten. Das alles hat wenig mit den Bedürfnissen und Bedarfen der Patientinnen und Patienten zu tun und kostet die Krankenkassen viel Geld. Gewinne und ökonomische Effizienz sind keine passenden Ziele für ein Gesundheitssystem.

Die Krankenhausplanung muss die regelmäßige Versorgung der Bevölkerung auf hohem medizinischen Niveau sicherstellen. Sie muss aber auch Reservekapazitäten für den Krisenfall einplanen. Gesundheitsversorger wie Krankenhäuser dürfen sich nicht die lukrativen Rosinen - zum Beispiel kostspielige Operationen - herauspicken, sie müssen sich am Wohl der Patientinnen und Patienten orientieren.

Unnötiger Wettbewerb

Auch unter den 103 gesetzlichen Krankenkassen läuft ein Wettbewerb um junge, gesunde Mitglieder. Er geht zulasten von Alten, Schwachen und chronisch Kranken. Keine Studie hat je belegt, dass ein Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen die Gesundheitsversorgung verbessert hätte.

Stattdessen ist ein gewaltiges Nebeneinander von Werbebudgets und Verwaltungsstrukturen entstanden, das große Summen verschlingt. Die Verwaltungskosten der gesetzlichen Krankenkassen sind im Jahr 2020 mehr angestiegen als die Leistungsausgaben. Das ist nicht in jedem Jahr so, aber es ist ein Hinweis: Eine einheitliche Verwaltungsstruktur einer gesetzlichen Krankenkasse würde nicht nur eine einheitliche Durchführung der Gesundheitsversorgung bedeuten, sondern auch vervielfachte Kosten in der Verwaltung vermeiden.

Solidarität ist das entscheidende Schlüsselwort. Würde jeder nach seinen Möglichkeiten in eine einheitliche, solidarische Krankenversicherung einzahlen, würde das Berechnungen zufolge ein Plus von rund zehn Milliarden Euro bedeuten. Das finanzielle Fundament dieses Solidarsystems stünde damit fester denn je. Für einen starken Sozialstaat ist ein gutes Gesundheitssystem ein elementarer Baustein. Für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft in schwierigen Zeiten wäre die Vereinigung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ein richtiger Schritt.

Verena Bentele ist Präsidentin des Sozialverbands VdK.