Hannover (epd). Endlich wieder bummeln und shoppen. Während viele Menschen sich freuen, dass der Einzelhandel nach dem langen Lockdown wieder öffnet, bedeuten die Lockerungen für wohnungslose Menschen vor allem eins: Sie treffen auf Mitarbeiter des Ordnungsamtes und werden aufgefordert, die provisorischen Schlaf- und Wohnstätten zu räumen, die sie sich in den über Monate verwaisten Innenstädten errichtet haben.
Mirko Vardovic ist einer von ihnen. Er liegt auf einer dicken Schicht aus Pappe unter den Arkaden des Karstadt-Gebäudes an der Georgstraße in Hannover. Und er ist nicht allein. Sieben weitere Wohnungslose campieren hier - mit Zelten, Schlafsäcken, Isomatten, Campingstühlen und Einkaufswagen. Von den Menschen, die in die wiedereröffneten Innenstädte zum Shoppen strömen, werden sie hier nicht gestört. Das Traditionskaufhaus hat im Juni letzten Jahres im Zuge einer Insolvenz seine Pforten für immer geschlossen. Die Schaufenster sind kahl, niemand will hier bummeln.
Vardovic hat dennoch Sorge, dass das Lager geräumt wird. „Entweder kommt das Ordnungsamt, holt die Klamotten weg oder man muss den ganzen Tag hier sitzen“, sagt er. In der Verordnung über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Landeshauptstadt Hannover ist das Verhältnis klar geregelt: Öffentliche Straßen dürfen nur dem Widmungszweck entsprechend benutzt werden. Lagern, Zelten, Übernachten gehören nicht dazu.
Gleichwohl handle die Stadt mit Augenmaß, sagt Udo Möller, Sprecher der Stadt Hannover. „Unsere Außendienstmitarbeiter setzen das Verbot dort durch, wo es wegen des Verhaltens einzelner, wie Verschmutzung und Störungen oder aufgrund berechtigter Beschwerden von Anwohnern und Geschäftsinhabern erforderlich erscheint.“ Wenn geräumt werden müsse, geschehe dies immer mit mehrtägigem Vorlauf und einer Information durch die Straßensozialarbeiter.
Streetworker Manuel Selle vom diakonischen Tagestreff für Wohnungslose „Mecki“ am Hauptbahnhof hat bereits miterlebt, dass nach einer Vorwarnung Zelte und andere persönliche Besitztümer der Obdachlosen abtransportiert wurden. „Die Leute werden angesprochen und wenig später kommt ein Auto von der Stadt, und dann wird alles abgerissen“, sagt Selle.
Rosemarie Heinert weiß, wie man sich in einer solchen Situation fühlt. Zwar hat die Frau in der weinroten Steppjacke nur wenige Monate auf der Straße gelebt und immer in der Notunterkunft am Alten Flughafen übernachtet, doch das hat ihr gereicht. „Das möchte ich nie wieder erleben“, sagt die 62-Jährige, die inzwischen in einem Hotel wohnt.
Das Hotelzimmer hat Heinert einem Spendenprojekt zu verdanken. Sie hofft, dass es nun bergauf geht. Beim Blick über das verdreckte Zeltlager zieht Heinert tief an ihrer Zigarette. „In so eine Situation kommt man schneller als man denkt“, sagt sie und fügt leise an: „Das sind Menschen wir Du und ich. Denen ist nichts Spektakuläres widerfahren. Das ist einfach passiert.“
Die Corona-Krise habe gezeigt, wie krisenanfällig die Unterstützungsstruktur für Wohnungslose sei, sagt die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke. Aus diesen Erfahrungen leitet sie Forderungen für die Zukunft ab. So müssten die Standards für Notunterkünfte erhöht werden. Schon vor der Pandemie seien die Zustände vielerorts unhaltbar gewesen, unter Infektionsschutzgesichtspunkten habe sich die Situation verschärft.
Die Hotelprojekte in verschiedenen Städten hätten zudem gezeigt, dass Wohnungslose in Einzelzimmern, in denen sie Privatsphäre genießen, neuen Mut schöpften und besser für die Sozialarbeiter zu erreichen seien, sagt die stellvertretende Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. „Diese Angebote müssen erhalten und ausgebaut werden.“ Rosenkes Sorge indes ist, dass die Pandemie so viele Menschen in finanzielle Not stürzt, dass für Wohnungslose künftig noch weniger Geld zur Verfügung steht als ohnehin schon.