Berlin (epd). Der Berliner Politikwissenschaftler Swen Hutter hält eine anhaltende Entfremdung vom Staat durch Teile der Corona-Kritiker für denkbar. Es müsse mit einer gewalttätigen Radikalisierung gerechnet werden, sagte Hutter, der am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) stellvertretender Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung ist. Bereits im März 2021 hatte Hutter mit Kollegen und Kolleginnen die Studie „Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland“ vorgelegt. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht er über die Entwicklung der vergangenen Monate.
epd: Sie beobachten mit Ihrem Team bereits seit mehr als einem Jahr die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Dazu machten Sie unter anderem Online-Befragungen mit mehr als 5.000 Teilnehmern und sogenannte Protestereignisanalysen. Was hat sich im vergangenen Jahr verändert?
Hutter: Wichtig ist zunächst festzustellen, dass schon Ende 2020 rund ein Drittel der Befragten, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen würden, dem radikalen rechten Rand angehörten. Das heißt, diese Menschen verorten sich selbst rechts im politischen Spektrum und würden auch AfD wählen. Auf der anderen Seite fühlt sich ein noch größerer Teil der Menschen, die die Corona-Proteste unterstützen, keiner Partei zugehörig, und würde auch nicht die AfD wählen. Es gibt also eine Spaltung in der Bewegung: Zum einen dieser rechtsextreme Rand und zum anderen die Menschen, die sich zwar selbst in der politischen Mitte sehen, aber sich nicht im politischen System repräsentiert fühlen. Was die beiden Teile eint, ist ein extrem großes Misstrauen gegenüber der Politik, aber auch gegenüber anderen Autoritäten, seien es die Medien oder die Wissenschaft. Und der Hang zu Verschwörungstheorien ist ihnen gemeinsam. Diese beiden Faktoren haben sich in den vergangenen beiden Jahren verstärkt. Die Folge ist auch eine Stärkung des rechten Randes im Mobilisierungspotenzial der Bewegung.
epd: Warum gehen denn die Menschen auf die Straße? Corona ist doch offenbar nur ein Auslöser, wenn wir etwa an die fremdenfeindliche „Pegida“-Bewegung denken, die bereits seit Ende 2014 mobilisierte.
Hutter: Innerhalb des aktuellen Corona-Protestes gibt es eben diese verschiedenen Gruppierungen. Das sind zum einen die Menschen, die schon länger an staatlichen Institutionen zweifeln, ihnen distanziert gegenüber stehen, Vollzugdefizite sehen. Und dann gibt es Protestpotenziale, die sich erst innerhalb dieser Krise aufgebaut haben. Das sind Menschen, die mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen nicht einverstanden sind, sich aber über die Zeit wegbewegt haben von der einfachen Kritik an den Maßnahmen hin zu einer wirklich großen Distanz zum politischen Betrieb und den Institutionen.
epd: Sie sagen, diese Menschen fühlen sich im politischen System nicht repräsentiert. Ist die AfD nicht Sprachrohr dieser Menschen in den Parlamenten?
Hutter: Das stimmt. Die AfD hat ja auch von der Geflüchteten-Krise 2015 profitiert. Aber nochmal: Von den Menschen, die tatsächlich zu den Demonstrationen und sogenannten Spaziergängen gehen, sehen sich nicht alle durch die AfD repräsentiert. Denen ist die Partei zu rechtslastig.
epd: Welches Weltbild haben denn diese Menschen, wenn sie offenbar eine „rechtslastige“ Politik ablehnen?
Hutter: Es gibt eben auch Menschen, die antidemokratische Einstellungen haben, die sich nicht so leicht links oder rechts verorten lassen. Der Verfassungsschutz spricht im Zusammenhang mit den Corona-Protesten von Angriffen gegen die Verfassung, die nicht unbedingt den klassischen Extremismen zuzuordnen sind. Dennoch ist klar, dass diese Proteste ein starkes rechtsextremes Gedankengut transportieren. Und gerade in Ostdeutschland treten Rechtsextremisten bei den Protesten immer wieder dominant auf.
epd: Haben Sie ein Beispiel für einen dieser neuen Extremismen?
Hutter: Es gibt etwa im künstlerischen Milieu und anderen Bereichen Personen, die sich über die Zeit deutlich von der herrschenden Meinung abgegrenzt haben und sich wirklich im Widerstand gegen diese Maßnahmen fühlen. Sie sprechen dann von „Corona-Diktatur“. Möglicherweise sind sie bei der Ausübung ihres Berufes behindert worden oder sie haben andere, teils sehr unterschiedliche Gründe. Die von diesen Personen unterstützen Verschwörungserzählungen sind dabei oft sehr widersprüchlich, manche führen ins Rechtsextreme hinein. Auf jeden Fall lassen sie sich nicht mehr so einfach einordnen und im Links-Rechts-Schema auf den Punkt bringen.
epd: Wird diese gesellschaftliche Spaltung nach Corona wieder überwunden, das Protestpotenzial sich auflösen?
Hutter: Teile davon werden verschwinden. Aber viele, die wirklich in diesem Widerstand sehr weit gegangen sind, die persönliche Anfeindungen und Verluste an sozialen Beziehungen in Kauf genommen haben, sind nicht so leicht zurückzuholen. Was aber eher verschwinden wird, wenn wir aus dieser Pandemie herauskommen und die staatlichen Maßnahmen aufgehoben sind, scheint mir die Allianz mit der extremen Rechten. Denn dann ist das verbindende Element an diesem Protest - die Kritik an den Maßnahmen - verschwunden. Ich bin also skeptisch, dass das rechtsextreme Potenzial langfristig durch die Corona-Proteste gestärkt wird.
epd: Wird die AfD davon profitieren?
Hutter: Für eine Partei wird es sehr schwer sein, dieses doch sehr heterogene Protestpotenzial insgesamt zu mobilisieren. Das sieht man etwa in Italien, wo sich aktuell fünf Parteien um die Impfgegner bemühen. Das ist anders als noch vor ein paar Jahren mit der Flüchtlingskrise.
epd: Sie sagen, dass das rechtsextreme Potenzial langfristig durch die Corona-Proteste vermutlich nicht gestärkt werde, andererseits aber Menschen, die sich heute selbst „im Widerstand“ sehen, nicht so leicht „zurückzuholen“ sind. Für wie groß halten Sie denn die Gefahr der Radikalisierung von Gegnern der Corona-Maßnahmen?
Hutter: Die Gefahr ist sehr groß und über die Zeit noch größer geworden. Das gilt insbesondere für das Gewaltpotenzial - auf Demonstrationen, gegenüber Amtsträgern oder durch Anschläge. Denn dazu braucht es nicht Viele, da reichen Einzelne aus. Nach der Radikalisierung im Diskurs, der fehlenden Gesprächsfähigkeit, sind wir jetzt in der kritischen Phase, wo sich zeigen wird, ob sich die Gewalt Bahn brechen wird.