Der Schock nach der Bundestagswahl am 24. September saß tief: Mit der AfD zog eine rechtspopulistische Partei in das Parlament ein. Konservative, Liberale und Linke befürchteten, dass die AfD-Abgeordneten den Plenarsaal als Bühne nutzen und zugespitzte Reden halten würden. Sechs Monate nach dem Einzug der AfD in den Bundestag lässt sich vor allem eines feststellen: Die Abgeordneten streiten wieder - und zwar in einem neuen Tonfall.

Eine der wohl bekanntesten Reden der laufenden Legislaturperiode hielt der Grünen-Politiker Cem Özdemir. Er warf der AfD in einer Antwort auf einen Antrag, mit dem Texte des Journalisten Deniz Yücel missbilligt werden sollten, Rassismus und Verachtung des demokratischen Systems der Bundesrepublik vor. Dabei war Özdemir sichtlich aufgebracht: Während sein Zeigefinger mehrmals mahnend in Richtung der AfD-Fraktion schnellte, war sein Gesicht hochrot und seine Stimme bebte.

Video ging viral

Kurze Videoclips aus Özdemirs Rede verbreiteten sich rasant in den sozialen Netzwerken. Menschen diskutierten, ob die Rede zu leidenschaftlich, provozierend oder aggressiv war. Spätestens jetzt wurde klar: Im Parlament hat sich etwas verändert. Die vergangene, dritte Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei "eine der blutärmsten Wahlperioden in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus" gewesen, sagte der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Mit der AfD im Plenarsaal sei der Ton emotionaler, aber auch rauer geworden, sagte Schroeder. Da nun eine rechtspopulistische Partei im Bundestag sitze, prallten konträre Positionen aufeinander. Zusätzlich versuche die AfD die etablierten Parteien mit Tabubrüchen zu provozieren und einen "Keil in die große Koalition zu treiben".

Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, wirft der AfD vor, ständig auszutesten, "wie weit man gehen kann". Dabei gehe es darum, "die Grenze des Sagbaren zu verschieben". Ob eine Aussage im Parlament die Norm überschreitet, entscheidet Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) oder einer seiner Stellvertreter in der Sitzungsleitung. Es liegt im Ermessen der Präsidiumsmitglieder, wem ein Ordnungsruf, eine Rüge, eine Ermahnung oder ein Bußgeld erteilt wird.

Drei Ordnungsmaßnahmen

Als der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio in der Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft vor dem "zur Regel entarteten Doppelpass" sprach, griff Schäuble nicht ein. Auch tolerierte er Curios Aussage, die ehemalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), sei ein "Musterbeispiel misslungener Integration". Dafür erntete Schäuble später heftige Kritik - auch von der Grünen-Politikerin Haßelmann.

Das Präsidium hat in der laufenden Wahlperiode vier Ordnungsmaßnahmen erteilt. Drei davon gingen an AfD-Abgeordnete. Thomas Seitz (AfD) erhielt eine Ermahnung für die Aussage, dass es richtig sei, dass das Holocaust-Mahnmal ein "Mahnmal der Schande" sei. Beatrix von Storch äußerte sich in der Einschätzung von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) "unparlamentarisch", als sie dem Grünen-Politiker Konstantin von Notz während seiner Rede zurief, er habe eine "Macke". Petr Bystron (AfD) musste als erster Abgeordneter ein Bußgeld von 1.000 Euro zahlen, weil er während der geheimen Kanzlerwahl ein Foto seines ausgefüllten Stimmzettels auf Twitter postete.

Im Vergleich zu den sieben Ordnungsmaßnahmen, die zwischen 2013 und 2017 erteilt wurden, scheinen vier Mahnungen in den ersten sechs Monaten der aktuellen Wahlperiode viel. Doch es ging schon in früheren Legislaturperioden ruppig im Bundestag zu: In den vier Jahren ab 1983, in denen die Grünen erstmals im Bundestag vertreten waren, erteilte das Präsidium 226 Ordnungsrufe, Rügen und Ermahnungen.

Schäuble mit Schlüsselfunktion

Trotzdem steht das Parlament derzeit vor einer neuen Herausforderung, sagte Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung. Er erkennt in Reden und Anträgen der AfD-Politiker häufig eine rassistische, homophobe und antidemokratische Denkweise. Lüdecke wies auf die Schlüsselfunktion von Schäuble hin, der derzeit einen "Seiltanz" bewältigen müsse: Der Bundestagspräsident müsse der AfD einerseits mit Mahnungen und Rügen zeigen, dass das Parlament wehrhaft ist. Andererseits müsse er bedenken, dass die AfD-Abgeordneten mit ihren Provokationen auch bezweckten, das Parlament vorzuführen, sagte Lüdecke.