

Schwarzenbruck (epd). Was ist uns die Digitalisierung in der Sozialwirtschaft wert? Nimmt man die Refinanzierung der Kostenträger als Gradmesser, fällt das Urteil ernüchternd aus. Das umlagefinanzierte Sozialversicherungssystem in Deutschland und damit die Finanzierung der Sozialwirtschaft lässt große Sprünge der Entwicklung nicht zu. Einen Digitalfonds, wie es ihn beispielsweise für den Krankenhaussektor gibt, sucht man für Einrichtungen im Dritten Sektor vergebens. Da bleibt nur die Politik der kleinen Schritte. Wohl dem, der bereits die Möglichkeit hat, per wLan eine Verbindung zur Außenwelt zu haben. Internet 2.0 fängt in der Sozialwirtschaft beim Internetanschluss an.
Die Corona-Pandemie hat nicht nur den Entwicklungsmangel der Digitalisierung im Bereich der Schulbildung verdeutlicht, sondern auch den Digitalisierungsgrad in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft offengelegt: Deutschland ist Entwicklungsland.
Die Refinanzierung lässt den Trägern der Alten-, Behinderten- und Jugendhilfe kaum Spielraum, um nennenswert in eine Infrastruktur zu investieren, die für den Fortbestand der Unternehmen in der Sozialwirtschaft lebensnotwendig ist: der digitalen Teilhabe – sowohl für die Unternehmen selbst als auch für ihre Kundengruppen. Der Anspruch der Leistungsempfänger steigt entsprechend den Möglichkeiten der Digitalisierung des allgemeinen Lebens und des öffentlichen Lebensraums. Wo Apps für Banking und ÖPNV, WhatsApp, Instagram und Co. das tägliche Leben bestimmen, erscheint die Lebensrealität in Einrichtungen der Sozialwirtschaft vielerorts wie aus der Zeit gefallen. Es zeichnet sich ab: Wer nicht in die Digitalisierung investiert, kalkuliert sich als Unternehmen aus dem Markt der Sozialwirtschaft.
Wer jedoch glaubt, dass beispielsweise der Fachkräftemangel durch Robotik, Künstliche Intelligenz oder Virtual Reality ausgeglichen werden kann. Auch der wird sich aus dem Markt kalkulieren. Denn die Digitalisierung löst keine Beziehungsfragen, die gerade in der Sozialwirtschaft essenziell und die DNA bei der Betreuung unterstützungsbedürftiger Menschen ist: das wertschätzende Wort, das "zwischen den Zeilen" hören oder die empathische Geste.
Die Digitalisierung wird Verknüpfungen verschiedener Daten herstellen und durch Algorithmen Informationen schneller verfügbar machen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Investitionen in die Digitalisierung nach dem Pull-Prinzip funktionieren, d.h. wollen Kostenträger finanzieren, investiert der Anbieter sozialer Dienstleistungen, auch der wird sich aus dem Markt kalkulieren. Klientinnen und Klienten sowie deren Angehörige sind heute schon schneller informiert und entscheiden mit diesem Wissensstand darüber, ob ein Anbieter der richtige ist, um den Liebsten eine Heimat zu werden.
Die Frage der "digital awareness" des Trägers bzw. das virtuelle Angebot für Klientinnen und Klienten sowie deren Angehörige wird schneller als uns lieb ist das Entscheidungsmerkmal für Klientinnen und Klienten sowie Angehörige bei der Wahl der Einrichtung in der Sozialwirtschaft sein.
Eine qualitativ gute Betreuung und Pflege wird vorausgesetzt. Es stehen schon heute eine Vielzahl von Bewertungen zur Verfügung und es wird künftig noch viel differenziertere, durch Algorithmen gestützte, Bewertungen durch Ärztinnen und Ärzte, Kostenträgern und weiteren Prüfinstanzen geben. Diese Beurteilungen, Zertifikate und andere Bescheinigungen werden als Informationsintermediäre für Klientinnen und und Klienten sowie Angehörige agieren und eine Bewertung der Einrichtungen vorwegnehmen. Das Essen und Trinken wird entsprechend dem Preismodell von Klientinnen und Klienten sowie Angehörigen assoziiert bzw. "on demand" von Klientinnen und Klienten in Anspruch genommen. Und im Zweifel wird der Lieferdienst ums Eck das entsprechende Angebot bereitstellen und liefern können.
Mit der Unterkunft und damit der eigentlichen Hotelleistung wird das real-digitale Mindset der Einrichtung einem Stresstest durch die Interessenten unterzogen. Nicht die Frage nach Fernseher oder Telefon bestimmt den Fragenkanon nach der Unterkunft. Zeitgemäße (Einzel-)Zimmer, Einrichtung, Räume der Begegnung und eine ansprechende Umgebung werden vorausgesetzt. Die "digital awareness" schließlich als unterschwelliger Begleiter für den neuen Lebensraum wird als Merkmal für die Assoziation des "gefühlten" Umgangs und der Betreuung mit den Klienten durch die jeweilige Einrichtung herangezogen. Ein reflektierter Umgang der Einrichtung in und mit digitalen Angeboten wird Maßstab und somit relevantes Entscheidungsmerkmal bei der Wahl der Unterkunft.
Um unter der gegebenen Finanzierung des Gesundheits- und Sozialsystems in Deutschland Einrichtungen der Sozialwirtschaft zu motivieren, entsprechende Investitionen von sich aus zu initiieren (Push-Prinzip), bedarf es einer Ressourcenallokation bei den Trägern. Sie kann nur gelingen, wenn auf Anbieterseite Aufbau- und Ablauforganisation effizient und effektiv gestaltet sind. Dabei spielt Digitalisierung der internen Organisation eine wichtige und entscheidende Rolle.
Jedoch wird keine Transformation analoger Prozesse in einen digitalen Prozess per se den erhofften finanziellen Freiraum schaffen. Die Digitalisierung von Arbeitsschritten ist dabei ein Element. Es braucht darüber hinaus weitere Standardisierungen sowie das Setzen von Leitplanken für Routineprozesse, um zu einer effizienten Kostenstruktur zu kommen. Wirkliche Effekte werden nur erzielt werden können, wenn im Zuge der Digitalisierung eine Kultur der Veränderungsbereitschaft gefördert und geschaffen wird, so dass Prozesse neu gedacht und umgesetzt werden können. Veränderung beginnt im Kopf.
In Deutschland wird die flächendeckende Digitalisierung der Sozialwirtschaft nur dann gelingen (können), wenn Kostenträger, Sozialunternehmen und Adressatengruppen (Klientinnen und Klienten, Bewohnerinnen und Bewohner sowie Angehörige) gemeinsam die digitale Teilhabe fordern und fördern.
Ohne zusätzliche finanzielle Anreize durch Kostenträger außerhalb der Regelfinanzierung von Leistungen des Dritten Sektors und die Bereitschaft neuer Finanzierungsstrukturen, ohne die intrinsische Motivation der Sozialunternehmen und deren Ressourcenallokation auf der einen Seite und mit dem real-digitalen Mindset der Leistungsempfänger auf der anderen Seite wird Deutschland auch post-Corona in der nächsten Dekade ein Entwicklungsland bleiben. Ein Entwicklungsland, in dem eine Konsolidierung stattgefunden hat.
Die Frage, ob kleine und mittlere Träger in der Sozialwirtschaft in der Lage sein werden, die hohen Investitionen in die Digitalisierung ihrer Einrichtungen und Leistungsangebote zu stemmen, werden sich viele stellen. Die Antwort wird eher desillusionierend sein als Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Kleine und mittlere werden sich mit größeren Trägern zusammenschließen (müssen). Große Anbieter werden durch das Gesetz der "economic of scale" und entsprechender Ressourcenallokationen notwendige Schritte der Digitalisierung mitgehen können. Wer also in der Sozialwirtschaft ein relevantes Sozialunternehmen auch in zehn Jahren sein möchte, muss jetzt unbeirrt den Weg in die Digitalisierung gehen – whatever it takes.
Sollte dies nicht gelingen, werden andere, grundsätzlichere Fragestellungen der Teilhabe und Unterstützung von Menschen im Alter, der Behinderten- und Jugendhilfe die öffentliche Diskussion in Deutschland bestimmen und einen ganz anderen Handlungsdruck erzeugen; sowohl auf die Politik als auch auf die Träger.