sozial-Branche

Corona

Jugendhilfeexpertin: "Viele Kinder werden verhaltensauffällig"




Martina Huxoll-von Ahn
epd-bild/DKSB
Corona ist eine gewaltige Herausforderung für die stationäre Jugendhilfe. Zwar sei die Betreuung der Mädchen und Jungen durchgehend gewährleistet, doch es gebe einen total unterschiedlichen Umgang mit der Frage, wie der regelmäßige Kontakt der Kinder zu ihren Eltern aufrechterhalten werden kann, sagt Martina Huxoll-von Ahn vom Kinderschutzbund im Interview.

Fachleute können nur vermuten, welche Folgen die Corona-Krise für die Psyche von Kinder hat, besonders für solche in stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Noch fehle es an Untersuchungen, sagt Martina Huxoll-von Ahn, stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes. Aber: "Wir müssen uns jetzt ganz genau anschauen, was da passiert ist, wie reagiert wurde und wo tatsächlich auch vermeidbare Fehler gemacht wurden, die letztlich zulasten der Kinder- und Jugendlichen und deren Eltern gingen." Die Fragen an Huxoll-von Ahn stellte Dirk Baas.

epd sozial: Der Lockdown dauert an, mit Lockerungen ist noch immer nicht zu rechnen. Was bedeutet das für die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe?

Martina Huxoll-von Ahn: Die Probleme in der Kinder- und Jugendhilfe wegen Corona sind vielschichtig. In den Arbeitsfeldern stellen sich sehr verschiedene Herausforderungen. Soweit wir das als Dachverband überblicken können, ist die Betreuung der Kinder und Jugendlichen in den stationären Einrichtungen aber trotz Lockdown und allem, was da dranhängt, gewährleistet. Doch Schwierigkeiten gibt es auch dort. Zum Beispiel hat es massive Folgen, wenn die Schule ausfällt oder nicht im Präsenzunterricht stattfindet. Dann stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor ganz anderen Aufgaben. Denn normalerweise sind ja die Kinder in der Schule oder in den Kitas. Jetzt sind sie aber meist den ganzen Tag ununterbrochen in der Einrichtung, ohne dass dafür der Personalschlüssel erweitert wird.

epd: Wie fangen die Einrichtungen das auf?

Huxoll-von Ahn: Das muss irgendwie organisiert werden, das ist klar. Auch wenn es oft nur Notlösungen sind. Denn Jugendämter pochen darauf, dass die Betreuung verlässlich sichergestellt ist. Vor Ort geht das oft nur mitÜberstunden. Oder man erhöht die Gruppengrößen. Die Träger bekommen das aber hin, denn wir haben keine Kenntnis davon, dass irgendwo der Betrieb etwa wegen erkranktem Personal nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Das haben die Landesjugendämter streng im Blick.

epd: Was für unmittelbare Folgen hat der Lockdown für die betreuten Kinder und Jugendlichen?

Huxoll-von Ahn: Wir stellen leider fest, dass es einen total unterschiedlichen Umgang mit der Frage gibt, wie der regelmäßige Kontakt von betreuten Kindern zu ihren Eltern aufrechterhalten werden kann, zum Beispiel an den Wochenenden. Die Pandemie hat zu großer Unsicherheit geführt, ob die Kinder wegen drohender Infektionen zu ihren Eltern dürfen oder nicht. Die Einrichtungen wissen ja nicht, ob die Mädchen und Jungen womöglich infiziert zurückkommen. Klar ist aber: Die Kinder müssen in bestimmten Rhythmen zu ihren Eltern nach Hause können.

epd: Das ist doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit ...

Huxoll-von Ahn: Aktuell ist das nicht so. Weil die Kinder- und Jugendhilfe im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung liegt, gibt es kein einheitliches Vorgehen. Es gab im ersten Lockdown eine völlig unterschiedliche Praxis. Viele Einrichtungen haben die Kinder nicht nach Hause gelassen, was mit Blick auf die Bindungen natürlich hochproblematisch ist. Und das über Wochen. Es darf doch nicht vom Zufall abhängen beziehungsweise von der Frage, wie die Einrichtungen das für sich regeln, ob die Kinder nach Hause gelassen werden. Da braucht es dringend klare und einheitliche Vorgaben.

epd: Experten gehen davon aus, dass Kinder häufiger Gewalt ausgesetzt sind, wenn sie wegen des Lockdowns überwiegend oder ausschließlich bei den Eltern daheim in den eigenen vier Wänden sein müssen. Gibt es dazu inzwischen Studien, die das belegen?

Huxoll-von Ahn: Wir vermuten, dass das so ist. Aber die Belastungen für Eltern, sich mit Homeoffice und Homeschooling arrangieren zu müssen, sind sehr unterschiedlich, je nach den Wohnverhältnissen. Es macht einen riesigen Unterschied, ob eine Familie ein großes Haus mit Garten hat oder aber in einer beengten Hochhauswohnung lebt. Belastbare Studien über eine mögliche Gewaltzunahme gibt es bisher nicht. Eine erste Abfrage des Bundesfamilienministeriums im Sommer nach dem ersten Lockdown an die Jugendämter hat aber ergeben, dass es keine Zunahme der Gefährdungsmeldungen gab. Trotzdem liegt die Vermutung nahe, dass die Dunkelziffer hoch ist, weil die Personen in den Kitas, Schulen, Sportvereinen oder Jugendgruppen, die sonst Hinweise auf Gewalt an die Jugendämter geben können, wegen des Lockdowns wegfallen.

epd: Ist die Jugendhilfe nach einem Jahr der Pandemie jetzt schon besser aufgestellt, um solche Extremsituationen besser meistern zu können?

Huxoll-von Ahn: Da muss man wohl etwas weiter ausholen. Wir betrachten als Verband die ganze Lage auch perspektivisch. Schwierig ist das aber, weil es noch keine aussagekräftigen Untersuchungen gibt. Was man aber schon hat, sind Angaben von Forschern, etwa von der Universität Hildesheim, darüber, wie Kinder und Jugendliche die Folgen des Lockdowns selbst erleben. Oder auch die COPSY-Studien des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf, für die Forscher die Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche der Kinder und Jugendlichen untersucht haben. Da hat man vor allem nachgewiesen, dass Kinder aus belasteten Familienverhältnissen besonders betroffen sind. Sozial ohnehin schon abgehängte Familien geraten wegen fehlender Hilfen schnell noch weiter ins Hintertreffen. Die Folgen sind hier viel dramatischer als für ihre bessergestellten Altersgenossen.

epd: Kita- und Schulöffnungen stehen ja schon länger im Fokus. Doch das ist nur die halbe Lebenswelt der Kinder. Sport- und Freizeitangebote hat die Politik bei ihren Einschränkungen und Verboten eher nicht im Blick.

Huxoll-von Ahn: Ja. Es wird zu wenig mitgedacht, was Kinder außer Schule und Kita sonst noch brauchen. Also Sport, Jugendarbeit und Freizeitangebote. Wir weisen schon heute darauf hin, dass, wenn Corona hoffentlich mal überwunden ist, man nicht einfach die gleichen Angebote wir vor der Pandemie machen kann. Da braucht es andere, sehr viel speziellere Angebote, um die sich abzeichnenden Langzeitfolgen der Krise zu stemmen.

epd: An was denken Sie da?

Huxoll-von Ahn: Viele Kinder zeigen bereits Verhaltensauffälligkeiten, viele haben motorische Störungen wegen des eklatanten Bewegungsmangels. Vermutlich werden wir zum Teil erhebliche Defizite feststellen. Und die muss man zu beheben versuchen. Aber dazu sind eben auch Angebote, etwa im Sport, nötig, die es bisher so noch gar nicht gibt. Es muss darum gehen, Kindern, die bestimmte Entwicklungsschritte wegen der Pandemie nicht machen konnten, einen gezielten Ausgleich anzubieten und sie nicht einfach zurückzulassen. Es geht um die Kompensation der Schwächen und Lücken, und das ist eine wichtige Aufgabe, der sich die Kinder- und Jugendhilfe zwingend annehmen muss.

epd: Reden wir über nötige Änderungen in der Arbeit und im Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe nach Corona. Was steht hier auf der Agenda? Etwa im Bereich der Digitalisierung.

Huxoll-von Ahn: Bei der technischen Ausstattung etwa mit Endgeräten ist in der Krise ordentlich nachgelegt worden. Aber ich meine, man muss auch grundsätzlich prüfen, wo digitale Formate etwa in der Beratung Sinn machen. Denn klar ist auch, vieles geht im Alltag nicht ohne persönliche Kontakte und Begegnungen. Man darf auch nicht übersehen, dass es viele Menschen gibt, die das einfach nicht wollen. Die suchen nach wie vor das direkte und persönliche Gespräch. Man muss das digitale Angebot, wo es möglich ist, anreichern, für mehr Vielfalt sorgen. Da gibt es bereits viele Beispiele, wie kreative Ideen einen Weg in die Zukunft zeigen. Aber nochmal: Digitale Angebote können und werden nicht den direkten Kontakt ersetzen.

epd: Moderne Formate im Internet können aber vielleicht auch neue Zielgruppen erreichen …

Huxoll-von Ahn: Auf jeden Fall. Aber auch die wollen vorbereitet und entwickelt sein. Und müssen dann auch zuverlässig genutzt werden können von den Fachkräften. Hier stehen wir aber nach meiner Beobachtung noch am Anfang. Es braucht viel Fort- und Weiterbildung, um sich auf die digitale Welt einzustimmen. Unter dem Zeitdruck der Pandemie haben viele Mitarbeitende der Jugendhilfe zunächst einfach versucht, mit ihren begrenzten digitalen Mitteln den Kontakt, der eh schon zu den Klienten bestand, zu halten. Das ist halbwegs gelungen. Doch man braucht auf jeden Fall für die Zukunft ein ganz anderes methodisches Repertoire für digitale Anwendungen - und das gilt auf allen Ebenen der Kinder- und Jugendhilfe, von den Jugendämtern über die Träger bis hin zu den Verbänden wie unserem.

epd: Ist zu viel Internet nicht auch eine Gefahr?

Huxoll-von Ahn: Ich denke schon. Das geht nicht nur den Kindern so, die inzwischen selbst sagen, nicht noch mehr Internetangebote zu ertragen, die schon von den schulischen Herausforderungen vor dem Computer zunehmend genervt sind. Aber uns geht es doch oft ebenso. Eine Internet-Runde jagd die nächste, täglich gibt es mitunter mehrere Zoom-Meetings. Ich selbst finde es sehr anstrengend, Begegnungen nur noch über Kachelformate auf dem Bildschirm zu haben. Generell ist festzustellen, dass quer durch alle Altersgruppen ein großer Mangel an persönlichen Kontakten besteht. Und das macht den Menschen zu schaffen.

epd: Reformen und Neuerungen auch für die Zeit nach Corona brauchen eine verlässliche Datenbasis. Noch fehlt es aber an Studien zu den Folgen der Pandemie für bestimmte Zielgruppen, wie etwa die Kinder und Jugendhilfe, oder sehen Sie das anders?

Huxoll-von Ahn: Nein. Da haben Sie völlig recht. Wir brauchen zwingend eine systematischere Aufarbeitung dessen, was im zurückliegenden Jahr passiert ist. Nur dann können wir besser gerüstet sein für mögliche andere Krisen oder auch neue Pandemien. Mit Blick auf die Schulen, die ja jetzt wieder nach und nach öffnen, hätte man sich nach meiner Meinung seit dem Sommer schon Gedanken machen müssen, unter welchen Bedingungen wieder Regelunterricht möglich sein kann. Da bin ich schon enttäuscht, dass von den Kultusministerien oft zu wenig Schlüssiges kam. Das gilt aber auch für die Kinder- und Jugendhilfe. Wir müssen uns jetzt ganz genau anschauen, was da passiert ist, wie reagiert wurde und wo tatsächlich auch vermeidbare Fehler gemacht wurden, die letztlich zulasten der Kinder- und Jugendlichen und deren Eltern gingen.

epd: Wer ist da bei Forschung in der Verantwortung?

Huxoll-von Ahn: Die Kinder- und Jugendhilfe ist Sache der Kommunen. Die ticken oft völlig unterschiedlich. Es sollte doch so sein, ganz unabhängig vom jeweiligen Träger, dass überall gleiche Regeln gelten. Diese heterogene Ausgangssituation macht eine übergreifende Forschung nicht leichter. Darin haben ja die großen Unterschiede etwa bei den Standards der Betreuung ihren Grund. Aber sicher könnten Landesministerien Studien anregen, die dann zwar keinen bundesweiten Blickwinkel haben, aber doch sehr hilfreich für eine qualitätvolle Arbeit vor Ort sein können.

Wenn man aber zu bundesweit relevanten Ergebnissen kommen will, muss man die Landesjugendämter einbinden, bei denen die Fäden zusammenlaufen. Dort sind alle Adressen der Träger von stationären Einrichtungen vorhanden. Die könnte man für Umfragen nutzen. Dann ließe sich ermitteln, wie die stationären Einrichtungen im Lockdown verfahren sind, wie sie Probleme gelöst haben, ob sie den Elternkontakt sicherstellen konnten und welche Beobachtungen sie bei den Kindern und Jugendlichen gemacht haben. So entstünde eine bundesweite Analyse, die uns sehr weiterbringen würde.