sozial-Recht

Landessozialgericht

Contergan-Rente wird nicht auf Hartz IV angerechnet




Original Contergan-Packung
epd-bild/Joker/Jörg Löffke
Entschädigungsleistungen für contergangeschädigte Menschen werden nicht mindernd auf Hartz IV angerechnet. Die Rente stellt eine Entschädigungszahlung dar, die bei Hartz IV nicht als Einkommen berücksichtigt werden darf, urteilte das Landessozialgericht Essen.

Conterganopfer müssen sich ihre Contergan-Rentenicht auf Hartz-IV-Leistungen als Einkommen mindernd anrechnen lassen. Aus Härtefallgründen kann zudem der Verkauf einer 119 Quadratmeter großen Wohnung unzumutbar sein, wenn diese vorwiegend aus den Zahlungen der Contergan-Rentefinanziert wurde, entschied das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen in einem am 22. Februar bekanntgegebenen Urteil.

Bei Contergan handelte es sich um ein von 1957 bis 1961 zunächst rezeptfrei verkauftes Beruhigungs- und Schlafmittel der Firma Grünenthal. Bei Schwangeren führte das Arzneimittel in Tausenden Fällen weltweit zu Fehlbildungen an den Gliedmaßen und auch an inneren Organen. Die Opfer werden in Deutschland durch die "Conterganstiftung für behinderte Menschen" entschädigt.

Auf Assistenzkräfte angewiesen

Im Streitfall hatte die 1962 geborene Klägerin wegen ihrer Conterganschädigung, unter anderem eine Fehlbildung an beiden Armen, eine Contergan-Renteerhalten. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt. Sie ist regelmäßig auf Assistenzkräfte angewiesen, die teilweise bei ihr übernachten müssen.

Ihre Berufstätigkeit beim Deutschen Entwicklungsdienst gab sie 2005 wegen Unstimmigkeiten mit ihrem Arbeitgeber auf. Seitdem ist die schwerbehinderte Frau auf Arbeitslosengeld II angewiesen.

Doch 2012 stellte das Jobcenter mit Verweis auf ihre Contergan-Renteund ihrer Eigentumswohnung fest, dass die Frau über ausreichende Einkünfte und Vermögen verfügt. So habe sie zuletzt monatliche Rentenzahlungen in Höhe von 5.760 Euro sowie eine einmalige Nachzahlung von 37.000 Euro erhalten.

Die Eigentumswohnung sei zudem mit 119 Quadratmeter Wohnfläche unangemessen. Angemessen seien vielmehr 80 Quadratmeter sowie ein behinderungsbedingter Zuschlag von zehn Prozent. Ihr sei der Verkauf daher zur Sicherung ihres Existenzminimums zuzumuten.

"Entgangene Lebensmöglichkeiten"

Die Frau zog vor Gericht und wollte feststellen lassen, dass sie Anspruch auf Hartz IV habe. Bei der Contergan-Rentehandele es sich um eine Entschädigungszahlung, die nicht als Einkommen auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden dürfe. Ihre Eigentumswohnung habe sie weitgehend mithilfe der Contergan-Rentefinanziert, so dass diese vor einer Veräußerung geschützt sein müsse.

Dem folgte das LSG. Die Contergan-Rentesei eine gesetzliche Entschädigungsleistung, die nicht als Einkommen auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet werden darf. Die Rentenzahlung solle nach dem Willen des Gesetzgebers "vorrangig entgangene Lebensmöglichkeiten" für Contergangeschädigte ausgleichen. Werde das Geld als Einkommen auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet, würde der Gesetzeszweck vereitelt.

Die Eigentumswohnung sei zwar sehr groß. Hier sei der Verkauf aber aus Härtegründen unzumutbar. Wegen ihrer Körpergröße von 1,50 Metern und ihren Fehlbildungen könne die Klägerin keine hohen Schränke nutzen und benötige mehr Stauraum in der Fläche. Die Wohnung enthalte zudem ein Zimmer für die Assistenzkräfte. Schließlich sei die Wohnung weitgehend aus der Contergan-Renteund behinderungsgerechte Umbauten öffentlich finanziert worden, so das LSG. Die Richter ließen wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.

Anspruch auf Kindergeld

Das Finanzgericht Baden-Württemberg in Stuttgart entschied in einem am 4. Januar 2017 veröffentlichten Urteil, dass die Contergan-Renteauch nicht zur Streichung des Kindergeldes führen darf. Kindergeld wird auch nach dem 25. Lebensjahr bezahlt, wenn die erwachsenen Kinder behinderungsbedingt sich nicht selbst unterhalten können. Es dürfen aber keine weiteren Einkünfte zum Lebensunterhalt oder Vermögen vorliegen.

Hier hatte die Familienkasse die Contergan-Renteals Einkommen berücksichtigt und die Kindergeldzahlung für eine contergangeschädigte erwachsene Frau gestoppt. Sie könne ihren Lebensunterhalt aus der Rente bestreiten.

Doch das Finanzgericht urteilte, dass die Rente vorwiegend aus "Entschädigungsgründen" und nicht zur Deckung des Lebensunterhalts gezahlt werde. Die Anrechnung als Einkommen sei daher nicht zulässig.

Leistungen verfünffacht

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig urteilte am 19. Juni 2014, dass Conterganopfer nach einer gesetzlichen Erhöhung der Contergan-Rentediese aber nicht rückwirkend für vor 2013 gelegene Zeiträume höhere Leistungen beanspruchen können. Die Leistungen der Conterganstiftung wurden 2013 auf monatlich 612 bis 6.912 Euro verfünffacht.

Eine offenkundig "sozialstaatswidrige Unterversorgung" habe auch vor 2013 nicht bestanden, so das Bundesverwaltungsgericht. Ein rechtlicher Anspruch auf höhere Leistungen bestehe daher nicht.

Az.: L 6 AS 1651/17 (LSG Essen)

Az.: 12 K 2756/16 (Finanzgericht Stuttgart)

Az.: 10 C 1.14 (Bundesverwaltungsgericht)

Frank Leth