sozial-Branche

Corona

Interview

Experten: Pflegeheime müssen auch nach Impfungen vorsichtig bleiben




Karin Wolf-Ostermann und Heinz Rothgang
epd-bild/Sven Herling/David Ausserhofer
Trotz der hohen Impfquoten bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Alten- und Pflegeheime bleibt die Corona-Lage in den stationären Pflegeeinrichtungen nach Ansicht der Bremer Pflegeforscher Heinz Rothgang und Karin Wolf-Ostermann extrem angespannt.

Die Impfungen gegen das Coronavirus und seine Mutanten werden den Infektionsschutz auch für volatile Gruppen erhöhen. "Kurzfristig stehen den Pflegeheimen aber noch schwierige Wochen bevor", sagten Heinz Rothgang und Karin Wolf-Ostermann im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd). Zur Situation in der stationären Pflege antworteten sie auf Fragen von Markus Jantzer.

epd sozial: Fast 70.000 Menschen sind in Deutschland an Corona gestorben, mehr als die Hälfte der Toten lebte in Alten- und Pflegeheimen. Was muss in diesem Jahr geschehen, um einen möglichst hohen Schutz in den Einrichtungen zu gewährleisten?

Heinz Rothgang: Die Strategie für Pflegeheime muss auch im Jahr 2021 aus verschieden Elementen bestehen, die ineinandergreifen. Das wichtigste Element ist sicher das Impfen der Bewohnerinnen und Bewohner und auch des Personals in den Heimen. Derzeit sind nach Angaben des Robert Koch-Instituts fast die Hälfte der Pflegeheimbewohner zweimal gegen das Coronavirus geimpft worden und verfügen damit nach einigen Wochen über einen sehr hohen Infektionsschutz. Allerdings sind zwei singuläre Impftermine nicht ausreichend, da manche Heimbewohnende an einem Impftermin nicht teilnehmen konnten und zudem regelmäßig neue Bewohnerinnen und Bewohner in die Einrichtungen kommen. Notwendig sind daher regelhafte Angebote für Nachimpfungen.

epd: Dennoch bleiben Impflücken, da nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner einer Impfung zustimmen ...

Rothgang: Richtig. Nicht alle wollen geimpft werden, und ein anderer Teil kann aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden. Es gilt daher auch weiterhin, wichtige Grundsätze im Umgang mit dem Virus zu beachten. Hierzu gehören nach wie vor verbindliche Schnelltests für alle Besucherinnen und Besucher und für nicht geimpftes Personal vor Betreten der Einrichtung. Bei positivem Testergebnis sollte eine Quarantäne und ein PCR-Test zur Überprüfung des Schnelltestergebnisses erfolgen. Bei geimpften Personen sollten bei weiterhin hohen Inzidenzzahlen diese Tests in größeren Abständen erfolgen. Es bleibt wichtig, Hygieneregeln penibel einzuhalten.

Mittel- und langfristig verdeutlicht die Pandemie zudem die Notwendigkeit, die Zahl der Pflegekräfte zu erhöhen, um professionelle Standards einhalten zu können. Bereits vor der Pandemie waren Pflegekräfte in besonderem Maße belastet und häufiger krank als andere Beschäftigte. In der ersten und zweiten Welle wurden sie über Gebühr gefordert. Wenn nun keine Besserung der Arbeitsbedingungen verbindlich in Aussicht gestellt werden kann, droht der Ausstieg einer Vielzahl von Pflegekräften aus ihrem Beruf.

epd: Wen sehen Sie beim Gesundheitsschutz in der Pflicht?

Rothgang: Im Umgang mit dem Pandemiegeschehen sind viele Akteure in unterschiedlichen Rollen und Funktionen in der Pflicht. Unbedingt vermieden werden muss aber ein "Schwarzer-Peter-Spiel", bei dem jeder nur versucht, die Verantwortung auf die anderen abzuschieben. Wenn dennoch primäre Verantwortlichkeiten bestimmt werden müssen, so liegt diese für das Impfen und entsprechende Impfstrategien bei den politischen Akteuren. Anders ist das bei der Organisation von Tests. Hier liegt die primäre Verantwortlichkeit bei den Heimen. Jedoch müssen diese in ihrem Auftrag unterstützt werden: entweder durch Refinanzierung der aufgewendeten materiellen und personellen Ressourcen oder aber zusätzlich durch direkte personelle Unterstützung, wenn diese notwendig ist. Für die Einhaltung notwendiger Hygienemaßnahmen sind neben den Pflegeheimen alle Personen in der Pflicht, die Heime betreten, aber letztlich auch wir alle, da wir das Infektionsgeschehen insgesamt begrenzen müssen.

epd: Was macht Ihnen die größte Sorge?

Rothgang: Hervorgerufen durch die ständig wachsende Bedeutung der deutlich ansteckenderen Mutation B.1.1.7 erleben wir gerade den Beginn der dritten Welle und müssten unsere Anstrengungen beim Infektionsschutz noch einmal verstärken. Nach einem Jahr Pandemiegeschehen mit wechselnden Lockdown-Phasen zeichnet sich in der Bevölkerung jedoch eine zunehmende "Coronamüdigkeit" ab – selbst wenn das Wissen um die weiterhin anhaltende prekäre Lage da ist. Als Konsequenz daraus werden notwendige Maßnahmen nicht mehr konsequent im Alltag umgesetzt. Gleichzeitig gerät die Politik unter Druck, die angekündigten Lockerungen auch in einer Phase steigender Inzidenzen durchzuführen, was das Fallzahlwachstum noch weiter anheizt. Da die Impfquoten aber noch zu gering sind, erwächst hieraus die Gefahr, dass die dritte Welle wiederum – auch in Pflegeheimen – zu einer Vielzahl schwerer Verläufe führen wird.

epd: Wie kann in diesem Jahr die Balance zwischen dem Gesundheitsschutz und dem Bedürfnis nach sozialen Kontakten in den Heimen gelingen?

Karin Wolf-Ostermann: Während der ersten Welle war die Einschränkung sozialer Kontakte vor dem Hintergrund fehlender Schutzmaterialien, Tests und Impfungen das primäre Mittel zur Begrenzung der Infektionen in den Pflegeheimen. Da dies die einzigen zur Verfügung stehenden effektiven Schutzmaßnahmen waren, wurden die daraus entstehenden negativen Folgen für die Bewohnerinnen und Bewohner in Kauf genommen. Auch wenn teilweise deutlich über das Ziel hinausgeschossen wurde und insgesamt nicht genug Fantasie aufgebracht wurde, um Kontakte trotzdem zu ermöglichen, war der Ansatz grundsätzlich vertretbar. Das ist inzwischen nicht mehr gegeben, da nun Schnelltests und Impfungen zur Verfügung stehen, so dass flächendeckende Kontaktsperren tabu sein sollten. Wir sollten aber nicht vergessen, dass fehlende soziale Zuwendung auch aufgrund mangelnder personeller Ressourcen bereits vor Corona ein massives Problem war – hier bedarf es auch weiterhin verstärkter Anstrengungen.

epd: Wie wird sich die Corona-Lage in den Heimen weiter entwickeln?

Wolf-Ostermann: Zentral und positiv ist zunächst die hohe Impfpriorität für Altenheimbewohnerinnen und - -bewohner und das Personal in Pflegeheimen. Hierdurch wird die Zahl der Corona-bedingten Todesfälle in den Heimen mittelfristig deutlich sinken – das stimmt hoffnungsfroh. Auf der anderen Seite stehen wir gerade am Beginn einer dritten Corona-Welle, die auch für Pflegeheime weiter massive Konsequenzen haben kann – insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der breiten Bevölkerung eine hohe Durchimpfungsrate noch in weiter Ferne ist und alle zunehmend Corona-müde sind – mit den daraus entstehenden Risiken. Kurzfristig stehen den Pflegeheimen daher noch schwierige Wochen bevor. Langfristig steht zudem zu erwarten, dass wir nach der Corona-Krise aufgrund der hohen Belastung und daraus resultierenden Erschöpfung verstärkt Abgänge von Pflegepersonal erleben werden, was die Situation in den Heimen verschlechtert und zu erneuten Abgängen führen kann. Hier hilft nur ein kraftvolles Bekenntnis der Politik zu einer zügigen Aufstockung der Personalressourcen.

epd: Was muss besser werden als 2020?

Wolf-Ostermann: Wenn wir zurückblicken, war das letzte Jahr vor allem durch bestehende Mangelsituationen gekennzeichnet: Waren es zunächst fehlende Schutzmaterialien und dann FFP2-Masken, so folgten fehlende Schnelltests und unzureichende Impfstoffmengen. Dies prägte massiv die Wahrnehmung, dass alles, was getan wurde, stets zu spät und in nicht ausreichendem Umfang geschah. In der ersten Welle ist dies vielleicht entschuldbar – aber spätestens ab dem Herbst 2020 war das Handeln wenig vorausschauend und die Vorbereitung auf den Winter unzureichend. Dabei sollten wir allerdings nicht vergessen, dass gerade die Entwicklung und Zulassung verschiedener Impfstoffe eine großartige Leistung war und ist. Als problematisch hat sich aber erwiesen, dass bestehende Denkmuster und Prozeduren – etwa bei der zurückhaltenden Bestellung von Impfstoffen – beibehalten wurden und es nicht möglich war, angesichts der Einmaligkeit der Krise "größer" zu denken. Da diese Pandemie nicht die letzte sein wird, sollten wir versuchen, hieraus zu lernen – angefangen von der Ausbildung des Personals über die Vorratshaltung kritischer medizinischer Produkte hin zu Pandemieplanungen und der Bereitschaft, im Krisenmodus bekannte Routinen zu verlassen und auch größere finanzielle Risiken einzugehen – um noch größeren Schaden abzuwenden.



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