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Gesundheit

Leben ohne den Schutz einer Krankenversicherung




In Corona-Zeiten wächst die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung.
epd-bild/Heike Lyding
Menschen ohne Krankenversicherung - das dürfte es in Deutschland eigentlich gar nicht geben. Und doch kommt es tausendfach vor. Ob mittellose Künstler, Soloselbstständige oder Flüchtlinge - in Corona-Zeiten geraten viele in existenzielle Not.

"Ich bin Musiker, und dieser Beruf lebt von der Jugend", sagt Peter Kaufmann (Name geändert). Der 60-Jährige bekommt keine Engagements mehr. "Mein Geschäft, das ich neben der Musik betrieben habe, ist bankrott, es hat sich eine Schuldenlast von über 100.000 Euro angehäuft." Die Folge: Kaufmann konnte keine Beiträge mehr für seine Krankenkasse aufbringen. Seither gehört er zu jenen Menschen, die nicht einfach zum Arzt gehen können, wenn sie erkranken. Im Jahr 2019 hatten rund 143.000 Menschen in Deutschland keinen Krankenversicherungsschutz.

Versicherung "ruhend" gestellt

Die Zahl hat sich seit 2015 verdoppelt, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hervorgeht. Durch Corona, und jetzt in der zweiten Welle, dürfte diese Zahl weiter gestiegen sein. Betroffen sind Obdachlose, Drogenkranke und Flüchtlinge, die über keine Aufenthaltserlaubnis verfügen.

Auch bei Migranten aus EU-Ländern, die sich länger als 90 Tage in Deutschland aufhalten, erlischt der Versicherungsschutz. Seit Beginn der Pandemie hat zudem die Zahl der Langzeitstudenten zugenommen, die nach Jobverlust kein Geld mehr für ihre Versicherung haben. In diesen Fällen stellt die Krankenkasse die Versicherung "ruhend". Rasant gestiegen ist auch die Zahl der (Solo-)Selbstständigen, die keine Regelleistungen mehr erhalten.

Laut Gesetz dürfte es dieses Phänomen nicht geben, denn jedem Bürger muss Zugang zur Krankenversicherung gewährt werden. Seit 2009 besteht eine gesetzliche Versicherungspflicht.

Doch die Praxis sieht vielfach anders aus. Peter Kaufmann gehört zu jenen, die sich keine Versicherung leisten können. "Ich musste mich zweimal einer Operation unterziehen." In seiner Not wandte er sich an die Münchner Hilfsorganisation "Ärzte der Welt", hierzulande eine der wenigen Anlaufstellen für Menschen, die sonst von Arztpraxen oder Krankenhäusern abgewiesen werden.

"Sie haben mir das Leben gerettet"

Bereits bei einem Zahlungsrückstand von mehr als einem Monatsbeitrag können Krankenkassen oder Privatversicherer ihre Regelleistungen verweigern: "Wir sehen in unseren Anlaufstellen viele Menschen, deren Leistungen ruhend gestellt sind und setzen uns dafür ein, dass alle Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung bekommen", sagt die Referentin für Grundsatzfragen von "Ärzte der Welt", Johanna Offe.

Immer öfter kämen auch Kleinunternehmer und Freiberufler in die teils mobilen Arztpraxen in München, Stuttgart, Hamburg und Berlin. "Ärzte der Welt" bietet nicht nur eine allgemeinmedizinische Versorgung an. Auch spezielle Sprechstunden für Kinder, Frauen oder psychisch Erkrankte gehören zum Hilfsangebot. Wenn nötig, werden notleidende Patienten an Fachärzte oder Beratungsstellen weiterverwiesen und Hilfen zum (Wieder-)Einstieg in das reguläre Gesundheitssystem angeboten. "Ohne sie wäre ich sicher schon seit fünf oder sechs Jahren tot. Sie haben mir das Leben gerettet", sagt Kaufmann über "Ärzte der Welt".

Vollständige Daten darüber, bei wie vielen Versicherten die Policen derzeit "ruhend" gestellt wurden, sind kaum zu bekommen. Auf eine Anfrage bei 24 Krankenkassen antworteten nur vier: Die DAK nannte rund 50.000 ruhende Versicherungen, die IKK-classic 38.522, die KKH etwa 17.000 und die HKK 3.052.

Auch die Malteser kümmern sich seit Jahren um Patienten ohne Krankenkassenkarte. Seit 2001 finden sie bundesweit Ärzte und medizinische Fachkräfte, die die Erstuntersuchung und Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung und Schwangerschaft vornehmen. Heute, so ist auf der Homepage zu lesen, lebt der größte Teil der Patienten legal in Deutschland: Bürger aus den neuen EU-Mitgliedsländern, Besucher aus anderen Ländern, Studenten, die die Regelstudienzeit überschritten haben, auch Selbstständige, die ihre private Krankenversicherung nicht mehr bezahlen konnten. Die Malteser unterhalten 20 Standorte, an denen unter strikter Wahrung der Anonymität beraten und behandelt wird.

Mahnungen und Ruhensbescheide

Auch Solo-Selbstständige, die nach dem Künstlersozialgesetz versichert sind, müssen in der Corona-Krise um ihren Versicherungsschutz fürchten. Denn auch die zuständige Künstlersozialkasse (KSK) verschickt Mahnungen und dann folgend auch sogenannte Ruhensbescheide, durch die der Versicherungsschutz wegen vorübergehender Zahlungsschwierigkeiten "ruhend" gestellt wird. Von März bis September gab es in diesem Jahr 6.244 Mahnungen (2019: 5.431). Bei den Ruhensbescheiden gab es im selben Vergleichszeitraum eine Steigerung von 1.892 Bescheiden im Jahr 2019 auf 1.990 im laufenden Jahr, wie die KSK auf epd-Anfrage mitteilte.

Knapp 200.000 Künstler, Publizisten und Journalisten sind über die KSK krankenversichert. Schuldet etwa ein freischaffender Sänger, Grafiker oder Artist der KSK mehr als einen Monatsbeitrag, droht ihm die Versicherungssperre. Geregelt ist das in § 16 Abs. 2 des "Gesetzes über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten" (KSVG). Erfolgt nach der Mahnung keine Zahlung, muss das Ruhen der Leistungen festgestellt werden.

Der medienpolitische Sprecher der FDP, Thomas Hacker, zeigt in der Pandemie wenig Verständnis für einen Ausschluss in Not geratener Künstler und Publizisten von der medizinischen Versorgung: "Gerade in der aktuellen Corona-Krise ist die Gesundheit des Einzelnen von herausgehobener Bedeutung. Ein Aussetzen des Versicherungsschutzes würde diesen Grundgedanken unterlaufen", sagt Hacker.

Ermessensspielraum ist eng

Das Bundessozialministerium weist auf die Möglichkeit einer Stundung von Versicherungsbeiträgen hin, auf die Künstler und Publizisten bei "unbilligen Härten im Einzelfall" hoffen dürften. "Die KSK besitzt bei diesen Entscheidungen ein Ermessen", sagte Ministeriumssprecher Dominik Ehrentraut auf Nachfrage.

"Im Zusammenhang mit dem Ruhen führt aber lediglich eine Stundung mit Ratenzahlung zur Beendigung des Ruhens. In diesem Rahmen übt die Künstlersozialkasse ein Ermessen aus", teilte die KSK mit. In jedem Fall muss der Versicherte also zumindest einen Teil seiner Rückstände begleichen, wenn der mit dem "Ruhen" entfallene "Anspruch auf Leistungen aus der Krankenversicherung wieder aufleben" soll. Wer auch die im "Ermessen" der KSK liegenden Teilzahlungen nicht aufbringen kann, erhält folglich keine Leistungen mehr. Gleiches gilt für abgelehnte Stundungsanträge.

Uwe Herzog