sozial-Politik

Corona

Kampf gegen den sozialen Absturz in Spanien




Eine Menschenschlange vor einer Kleiderkammer in Madrid (Archivbild)
epd-bild/Hans-Günter Kellner
Schon vor der Corona-Pandemie war in Spanien jeder Vierte von Armut bedroht, wie offizielle Statistiken zeigen. In der aktuellen Krise gewährt die Regierung großzügig Kurzarbeitergeld und führt eine neue Sozialhilfeleistung ein.

Die Schlange ist lang. Im Madrider Stadtteil Villaverde warten etwa 50 Menschen darauf, dass die "Gelbe Ente" öffnet. So heißt eine Bürgerinitiative, die hier schon seit mehr als zehn Jahren Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Auch Verónica Fuentes steht an. Die Spanierin lebt mit ihrem Mann, sechs Kindern und einer Enkelin in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Seit sie arbeitslos ist, ist die Sozialhilfe der Madrider Regionalregierung und das Kindergeld das einzige Einkommen der Familie, insgesamt sind es 800 Euro. Sie gehört zu den 25 Prozent der Menschen in Spanien, die nach Statistiken aus dem Jahr 2019 als von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht gelten. Die sozialen Hilfswerke gehen davon aus, dass es mit der Coronakrise noch mehr geworden sind.

Kurzarbeitergeld für drei Millionen Spanier

Denn mit der Pandemie haben mehr als eine Million Menschen ihren Job verloren. Um diese Entwicklung abzufedern, hatte die spanische Regierung großzügig Kurzarbeit genehmigt, nicht nur für Angestellte, sondern auch für Selbstständige. Fast 3,4 Millionen Spanier bekamen im Juni Kurzarbeitergeld. Im Juli ist ihre Zahl um etwas mehr als eine halbe Million gesunken, vor allem die Gastronomie und Hotels hatten im Sommer auf die Reisewelle gehofft und Leute eingestellt.

Mit dem Kurzarbeiterprogramm behalten die Beschäftigten ihren Arbeitsplatz und erhalten während der Kurzarbeit 70 Prozent ihres Gehalts von den Arbeitsämtern. Das Programm läuft Ende September aus. Über die Fortführung der Kurzarbeit wollen die Tarifpartner und die Regierung miteinander verhandeln.

Zwar lag die Arbeitslosenquote in Spanien im Zuge der Immobilienkrise deutlich höher: 2013 lag sie bei fast 27 Prozent, während die offizielle Arbeitslosenquote derzeit mit 15,33 Prozent angegeben wird. Doch damals konnten sich viele Spanier durch Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Mit der Pandemie gibt es diese Möglichkeiten kaum noch.

Verónica Fuentes in der Schlange vor der Lebensmittelausgabe hatte einst geputzt, Obst verkauft, alte Menschen versorgt, doch nie hatte sie einen Arbeitsvertrag und somit auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Kurzarbeit. Für solche Fälle gibt es bei den 17 autonomen spanischen Regionen schon lange ein sogenanntes "Minimales Integrationseinkommen" (renta mínima de inserción – RMI). Doch in jeder Region sind die Höhe der Zahlungen und auch die Anspruchsvoraussetzungen unterschiedlich. In Navarra gibt es am meisten, zwischen 610,80 und 1.221,60 Euro, ausgerechnet im teuren Ballungsraum Madrid hingegen nur zwischen 400 und 735,90 Euro.

Eine neue, zentrale Sozialleistung

Die spanische Regierung hat früh erkannt, dass mit der Pandemie viele Familien vor dem sozialen Absturz stehen. Sie hat darum im Juni eine weitere Sozialhilfe eingeführt, das sogenannte "Lebens-Mindesteinkommen" (ingreso mínimo vital-IMV). Je nach Größe der Familie sind es zwischen 461,50 und 1.015 Euro, eine staatliche Sozialhilfe zusätzlich zu den Zahlungen der Regionen.

In der Schlange vor der Lebensmittelausgabe in Villaverde hätten wohl die meisten einen Anspruch auf Leistungen, doch bislang konnten sie nicht einmal einen Antrag stellen. Die Bürokratie scheint sich übernommen zu haben. Die Sozialämter vergeben Antragstellern Termine, doch die Wartezeiten sind enorm. Grund ist für die Gewerkschaften der Personalmangel. Die Sozialämter haben durch die Haushaltskürzungen in den letzten zehn Jahren 6.000 Beamte verloren. Bislang sind nur 80.000 Anträge positiv beschieden.

Jobs sind nicht in Aussicht, im Gegenteil: Mit den wachsenden Infektionszahlen wird sich die Wirtschaftskrise vertiefen. So wird auch die neunköpfige Familie von Verónica Fuentes noch länger von den Lebensmittelspenden abhängig sein - und mit den 800 Euro zurechtkommen müssen, die sie bislang bekommt.

Hans-Günter Kellner