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Armut

Grüne wollen eine höhere Grundsicherung ohne Sanktionen




Hartz-IV-Antrag
epd-bild/Norbert Neetz
Die Grünen wollen die Hartz-IV-Regelsätze deutlich erhöhen und erhalten dafür Beifall von Sozialverbänden und Gewerkschaften. Ein neues Berechnungsmodell und die Abschaffung der Sanktionen sollen für eine Grundsicherung sorgen, die den Namen verdient. Von den Sozialverbänden kommt Zustimmung.

Die Grünen nennen erstmals Zahlen, wie hoch Hartz-IV-Regelsätze sein müssten, wenn sie vor Armut und Ausgrenzung schützen sollen. Die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt forderte die Bundesregierung am 23. Juni in Berlin auf, im Herbst ein neues Gesetz zur Ermittlung der Regelsätze vorzulegen, "das Schluss macht mit der Kleinrechnerei". Jeder Bürger und jede Bürgerin habe einen Anspruch darauf, dass die Grundsicherung halte, was sie verspreche, sagte Göring Eckardt.

In der Partei gibt es seit mehr als einem Jahr Überlegungen zu einer weitgehenden Abkehr vom Hartz-IV-System, das die Grünen Anfang der 2000er Jahre gemeinsam mit der SPD eingeführt hatten. Sozialverbände lobten den Vorstoß. Sie versprechen sich Rückenwind für die Debatte um ein menschenwürdiges Existenzminimum und die Abschaffung der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger. Das Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Anja Piel, erklärte, der Vorschlag "würde für einen Durchbruch bei der Armutsbekämpfung sorgen".

170 Euro mehr pro Erwachsenem

Nach den Berechnungen im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion müsste ein allein lebender Erwachsener monatlich 603 statt 432 Euro bekommen. Die Leistungen für Kinder müssten je nach Alter um 56 Euro (bis sechs Jahre) bis zu 116 Euro (ab 14 Jahre) im Monat angehoben werden. Unterkunft und Heizung für Grundsicherungsempfänger werden vom Amt bezahlt.

Die Grünen stellen ein neues Berechnungsmodell vor, das die Regelsätze ins Verhältnis setzt zu den Lebenshaltungskosten von Mittelschichtshaushalten und orientieren sich damit stärker am allgemeinen deutschen Wohlstandsniveau. Sie berufen sich auf ein Gutachten, wonach zur Sicherung des Existenzminimums einem Grundsicherungsempfänger gut die Hälfte davon zur Verfügung stehen muss, damit nicht nur das Lebensnotwendigste sondern auch ein gewisses Maß an Teilhabe gesichert ist. Dazu zählt die gelegentliche Kinokarte ebenso wie ein Weihnachtsbaum.

Kritik an unberechtigten Abzügen

Bisher werden die Regelsätze anhand der Ausgaben der ärmsten Bevölkerungsschichten berechnet. Für Protest von Sozialverbänden sorgt regelmäßig, dass davon auch noch Posten abgezogen werden. Dadurch klafft die größte Lücke zu den Lebensbedingungen der gesellschaftlichen Mitte bei der Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Mindestmittel zur gesellschaftlichen Beteiligung gehören aber laut höchstrichterlichen Urteilen genauso zum Existenzminimum wie Essen, Kleidung und Wohnen.

Der Fraktionsbeschluss, in dem die Grünen auch ihre Forderung nach einer Abschaffung der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger wiederholen, fiel bereits im Mai. Er wurde aber wegen der Einschränkungen und des Zeitdrucks durch die Corona-Krise jetzt erst der Öffentlichkeit vorgestellt. Für die Krisenzeit brauche es einen kurzfristigen Aufschlag von 100 Euro für Erwachsene und 60 Euro im Monat für Kinder, fordern die Grünen und unterstützen damit Sozialverbände und Gewerkschaften. Grundsicherungsempfänger können von den Corona-Hilfen kaum profitieren, haben durch eingeschränkte Hilfsangebote aber höhere Ausgaben.

Diakonie hofft auf neue Dynamik

Die Diakonie Deutschland hofft, dass mit dem Beschluss der Grünen "eine Dynamik für die Überwindung von Armut in Deutschland in Gang" kommt. Vorstandsmitglied Maria Loheide lobte, der Vorschlag erfülle die Anforderungen an "eine sach- und realitätsgerechte Ermittlung des Existenzminimums". Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, erklärte, mit höheren Regelsätzen und dem Verzicht auf Sanktionen werde der Weg zur Überwindung von Hartz IV zu einer echten Grundsicherung beschritten.

Wolfgang Stadler, Vorstandsvorsitzender des AWO Bundesverbandes, sagte in Berlin, das Positionspapier sei ein wichtiger Beitrag zur politischen Debatte. "Denn es zeigt, dass nicht eine scheinbar objektive Statistik, sondern konkrete politische Setzungen über das letztendliche Leistungsniveau entscheiden." Innerhalb eines verfassungsrechtlichen Rahmens habe der Gesetzgeber einen politischen Handlungsspielraum. "Wir werden uns in der anstehenden Regelsatzneuberechnung dafür einsetzen, dass dieser Handlungsspielraum zu Gunsten der Betroffenen ausgeschöpft wird und damit die materiellen Lebensbedingungen für die Menschen verbessert werden."

Bettina Markmeyer