Göttingen (epd). Menschen stehen bei Großdemonstrationen dicht an dicht, in den Einkaufsmeilen der Städte drängen sich die Menschen aneinander vorbei. Bundesweit treten immer mehr Corona-Lockerungen in Kraft. Dem Göttinger Angstforscher Borwin Bandelow zufolge bedeuten diese Entwicklungen für die Menschen im Alltag mehr Eigenverantwortung. "Für manche war die Zeit des Lockdowns mit den klaren Verboten sicher viel einfacher nachzuvollziehen", sagt der Forscher. Der Großteil der Bevölkerung kommt seiner Meinung nach aber gut mit den gelockerten Umständen zurecht.
"Bis auf einige sogenannte 'Covid-Idioten', die überhaupt nichts kapieren, sind die meisten zu Amateur-Virologen geworden und wissen, was man macht und was nicht", ist Bandelow überzeugt. Ein Großteil der Bevölkerung reagiere nach wie vor diszipliniert und geordnet auf die Krise.
Am Anfang hätten hingegen viele das Risiko zu erkranken deutlich überschätzt. "Das ist immer so, wenn eine neue Gefahr kommt und diese unrealistische Einschätzung sich erst einpendelt", meint der Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen.
Auch der Soziologe Berthold Vogel sieht, dass ein Großteil der Bevölkerung die derzeitigen Regeln mitträgt. Allerdings hätten die Lockerungen vor allem erhebliche gesellschaftliche Konflikte zur Folge, warnt der Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts in Göttingen. Privilegien und Bedürfnisse einzelner Menschen, aber auch sozialer Gruppen würden unterschiedlich anerkannt. Hätten zunächst vor allem gesundheitliche Sorgen und die Situation besonders schutzbedürftiger Menschen im Mittelpunkt gestanden, rückten mit jedem Lockerungsschritt immer mehr wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund: "Daraus resultiert vielfältiger Abwägungsbedarf: Wer darf oder muss im Home-Office bleiben? Wen zwingt die Systemrelevanz an den Arbeitsplatz? Ist der Einzelhändler schutzbedürftiger als der Reiseveranstalter?".
Derartige Fragen, die nach einem kontinuierlichen Ausbalancieren unterschiedlicher teils widerstreitender Interessen verlangten, "werden uns noch länger als nur bis zum Herbst dieses Jahres beschäftigen", ist Vogel überzeugt.
Soziologisch betrachtet stehe Deutschland somit erst am Anfang der Krise, betont Vogel. Dabei sei fraglich, ob das Virus letztendlich hartnäckiger sei als die beschlossenen staatlichen finanziellen Hilfspakete. "Es wird wahrscheinlich ein Marathonlauf und kein Sprint."
Zumindest psychisch sind die Menschen für diese neue Phase der Corona-Pandemie laut Angstforscher Bandelow gut gewappnet. Niemals seien die Menschen nach vorangegangenen Krisen wie den Anschlägen auf das World-Trade-Center oder anderen Virenerkrankungen wie der Vogelgrippe in die psychiatrischen Praxen gestürmt und hätten sich wegen Angsterkrankungen behandeln lassen.
Allerdings gingen die Menschen verschiedener Altersgruppen unterschiedlich mit dem Risiko und der Angst vor einer Ansteckung um, ist der Ehrenvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Angstforschung überzeugt. Gerade die Menschen ab etwa 50 Jahren seien sorgloser als die 30- bis 40-Jährigen. "Das liegt daran, dass Angst im Gehirn über Rezeptoren läuft, die sich, wie alles im Alter, abnutzen. Alles wird schlechter: das Sehen, das Gedächtnis, das Hören, der Sex, die Körperfunktionen werden schwächer."
So hätten beispielsweise vorwiegend jüngere Menschen, die 30- bis 40-Jährigen, zu Beginn des Lockdowns die meisten Hamsterkäufe getätigt, sagt Bandelow. Überrascht habe ihn das Ausmaß dieses Verhaltens, das sich in einem "unintelligenten Teil des Gehirns" abspiele. Der Ursprung liege darin, dass Menschen schon vor Zehntausenden von Jahren aus Überlebensangst für den Winter Vorräte angelegt hätten. "Die Bedenkenträger haben somit überlebt und Kinder gekriegt."
Der Angstmechanismus, der sich zu Anfang der Krise durchgesetzt habe, sei zwar erblich bedingt, aber nicht unüberwindlich: "Nach ein paar Wochen hört das auf und dann kommen wieder die Vernünftigen Überlegungen durch", meint Bandelow.
Auch Soziologe Vogel zeigt sich optimistisch, dass in dieser konfliktbelasteten Situation auch Chancen liegen. Eine wichtige Rolle komme dabei den öffentlichen Einrichtungen zu. Das seien beispielsweise Schulen, Gesundheitsämter, Arbeitsagenturen, den Gewerkschaften, der öffentliche Nahverkehr und die Pflege- und Rettungsdienste. "Auf diese Institutionen können wir uns auch in der Krise verlassen." Umso wichtiger sei es, den Beschäftigten durch höhere Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen auch zukünftig mehr Wertschätzung entgegenzubringen.
Vogel zufolge lerne die Gesellschaft aus der Corona-Krise auch, dass digitale Werkzeuge zwar zukünftig immer wichtiger werden. "Allerdings zeigt uns diese Zeit auch, wie sehr wir nicht-digitale und soziale Wesen sind, die die persönliche Begegnung brauchen."