Berlin (epd). Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot organisierter Hilfe beim Suizid gekippt. Die Richter sahen darin einen Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht. Dieses Grundrecht umfasse auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, heißt es im Urteil vom 26. Februar. Zugleich ließ es dem Staat einen Handlungsspielraum, diese Form der Sterbehilfe zu regulieren. Der steht wieder am Anfang bei der Frage, was am Lebensende erlaubt sein sollte. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte Gespräche über eine mögliche Regulierung der nun grundsätzlich erlaubten organisierten Suizidassistenz an. Kirchenvertreter bewerten die Entscheidung unterschiedlich.
Spahn sagte in Berlin, er werde mit allen Beteiligten sprechen, um eine verfassungsgerechte Lösung zu finden. Ob eine mögliche Regelung letztlich von der Bundesregierung oder vom Bundestag initiiert werden soll und wann sie kommen könnte, ist nach seinen Worten noch offen.
Über eine Regelung wolle er sprechen mit Blick auf Beratungspflichten, Wartefristen und den Umstand, dass je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Sterbewillens gestellt werden könnten, sagte Spahn.
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hatte zuvor ausgeführt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse. "Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen", erklärte er.
Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben ein Ende zu setzen, "entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umfang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit", betonte das Gericht.
Schwerstkranke Menschen, Sterbehilfe-Vereine und Ärzte hatten gegen das Verbot geklagt, weil sie darin eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Berufsfreiheit sehen. Der Kläger Helmut Feldmann, der an einer tödlichen Lungenkrankheit leidet, zeigte sich "sehr dankbar" für das Urteil: "Das gibt mir die Sicherheit, das Leben, das ich noch habe, zu gestalten."
Der Strafrechtsparagraf 217 war 2015 eine Reaktion des Gesetzgebers auf Sterbehilfe-Organisationen und Ärzte, die Sterbewilligen Assistenz bei der Selbsttötung versprachen. Er stellt die sogenannte geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung unter Strafe. Wie der Suizid selbst wird auch die Hilfe dabei nicht verfolgt. Über ein Verbot "geschäftsmäßiger", also auf Wiederholung angelegter Hilfe, wollte der Gesetzgeber dafür sorgen, dass Einzelentscheidungen straffrei bleiben, die Praxis von Sterbehilfe-Vereinen aber dennoch unterbunden wird.
Damit ist er zu weit gegangen, urteilte nun das Bundesverfassungsgericht. Die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, sei "als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren". Diese weite Auslegung des Gerichts bei der Frage der persönlichen Selbstbestimmung sorgte für Kritik bei denen, die vor fünf Jahren das Treiben von Sterbehilfe-Organisationen unbedingt gesetzlich unterbinden wollten.
Es sei eine "neue Dimension", dass das höchste deutsche Gericht von einem Recht auf Suizid und Suizidbeihilfe gesprochen habe, sagte die SPD-Politikerin Kerstin Griese. "Die Menschlichkeit in unserem Land hat heute eine schwere Niederlage erlitten", erklärte der CDU-Politiker Michael Brand, der wie Griese zu den Initiatoren des Paragrafen 217 gehörte.
Auch die Kirchen reagierten unterschiedlich auf das Urteil. Sie hätten "mit großer Sorge" zur Kenntnis genommen, dass das Gericht das Verbot der organisierten Beihilfe zum Suizid aufgehoben hat, teilten der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, in einer gemeinsamen Erklärung mit. Das Urteil stelle "einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar", ergänzten sie.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie zeigte sich enttäuscht und sagte, "Beihilfe zum Suizid darf keine Alternative zu einer aufwendigen Sterbebegleitung sein". Er befürchte, dass diese Entscheidung nun eine Dynamik mit möglichen Konsequenzen nach sich zieht, deren Folgen nicht abschätzbar seien.
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung befürchtet, "dass sich Menschen dadurch unter Druck gesetzt fühlen oder unter Druck gesetzt werden können, ihrem Leben ein Ende zu setzen". Sie sollten aber keine Angst davor haben müssen, dass sie am Ende des Lebens jemandem zur Last fallen oder nicht gut begleitet werden, sagte Jung dem Evangelischen Pressedienstes (epd) in Darmstadt. Deshalb sei es nach wie vor wichtig, die palliative Begleitung zu stärken.
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister begrüßte dagegen das Urteil. "Ich glaube, dass das Urteil eine wichtige Klärung ist", sagte der Theologe in Hannover auf epd-Anfrage. "Es zeigt, dass die Würde des Menschen auch das Selbstbestimmungsrecht des Menschen beinhaltet."
Das Verfassungsgericht sieht den Staat indes nicht nur als Zaungast individueller Sterbeentscheidungen. Dem Gesetzgeber sprach es auch zu, 2015 mit Blick auf die Vereine ein legitimes Anliegen verfolgt zu haben. Im Urteil geben die Richter Hinweise, wie der Gesetzgeber organisierte Hilfe beim Suizid regulieren könnte, etwa durch Aufklärungs- und Wartepflichten, Erlaubnisvorbehalte, Nachweise der Ernsthaftigkeit des Wunsches oder Verboten "gefahrträchtiger" Suizidhilfe. Es von einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen, lehnen die Richter allerdings ab. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben "besteht in jeder Phase menschlicher Existenz", schreiben sie.
Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, forderte den Gesetzgeber auf, die Anregungen des Gerichts schnell aufzugreifen und umzusetzen. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Hospiz- und Palliativmedizin, Lukas Radbruch, warnte vor "freier Fahrt für Sterbehilfeorganisationen", die nach dem Urteil nun erst einmal möglich scheint. Der Vorsitzende des Vereins "Sterbehilfe Deutschland", Roger Kusch, kündigte bereits an, sein Angebot auszuweiten und dafür Ärzte zu suchen.
Paragraf 217 war aus einer Initiative im Bundestag entstanden. Wie bei ethischen Fragen üblich, hatten sich fraktionsübergreifend Gruppen zusammengefunden. Die Mitglieder der damaligen Bundesregierung hatten als Abgeordnete mehrheitlich für den Paragrafen 217 gestimmt, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Ob sie nach dem Karlsruher Urteil Handlungsbedarf sehen, blieb am zunächst offen. Die Begründung werde zunächst geprüft, sagte Regierungssprecher Seibert.
Aus den Reihen des Bundestags gab es derweil schon erste Wortmeldungen. Der Grünen-Abgeordnete Kai Gehring erneuerte seine Forderung, dass mit der Suizidhilfe kein Profit gemacht werden dürfe. Gehring war mit anderen Abgeordneten 2015 für eine Regelung eingetreten, die organisierte Suizidassistenz erlaubt, solange sie nicht kommerziell ist.
Die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr kündigte sogar schon einen fraktionsübergreifenden Antrag für ein "liberales Sterbehilfegesetz" an. Kürzlich hatte sie Eckpunkte für ein Verfahren vorgelegt, das die Suizidassistenz ermöglichen soll, wenn der freie Wille belegt ist und der Sterbewillige eine Beratung bekommen hat.
Klar scheint nach dem Urteil, dass es künftig liberalere Regelungen geben wird. Denn auch im Bundestag haben sich die Verhältnisse verändert, nachdem 2017 die AfD neu und die FDP wieder eingezogen ist.
Zu klären wird in der Folge des Urteils auch sein, ob sich an den Regeln für Ärzte etwas ändert. Deren Musterberufsordnung verbietet die Mitwirkung am Suizid. Mindestens einzelne Mediziner haben das wiederholt kritisiert. Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt erklärte, soweit das Gericht auf ihr Berufsrecht abhebe, werde eine innerärztliche Debatte notwendig sein.