sozial-Politik

Missbrauch

Mertes: "Ich fühle mich in die Logik des Ablasswesens hineingelockt"




Klaus Mertes
epd-bild/Norbert Schäfer/Kolleg St. Blasien e.V.
Der Jesuitenpater Klaus Mertes (65) wurde zum Whistleblower, lange bevor die Welt von Edward Snowden gehört hat. Der damalige Direktor des Canisius-Kollegs machte vor zehn Jahren in einem Brief die Missbrauchsfälle im Berliner Jesuiteninternat öffentlich. Im epd-Interview blickt er zurück - und nach vorne.

Klaus Mertes konnte nicht ahnen, dass er mit seinem Schreiben eine Dynamik auslösen würde. 3.677 Kinder und Jugendliche sind laut der Missbrauchsstudie zwischen 1946 und 2014 zum Opfer geworden. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Zehn Jahre später dreht sich die Debatte um Entschädigungsleistungen - und Mertes prophezeit im epd-Interview eine neue Enttäuschung der Betroffenen seitens der Kirche. Die Fragen stellte Franziska Hein.

epd sozial: Wie kam es 2010 dazu, dass Sie den Brief geschrieben haben, der alles ins Rollen gebracht hat?

Klaus Mertes: Kurz gesagt: Drei Männer aus dem Abiturjahrgang 1980 kamen zu mir und erzählten mir von dem Missbrauch, den sie erlebt hatten durch zwei Jesuitenpatres und Lehrer in den 70er und 80er Jahren. Die Geschichten waren glaubwürdig. Mir wurde dann klar, es muss mindestens weitere 100 Opfer geben. Und mir war klar, diese Information kann ich nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen, sondern ich muss Verantwortung übernehmen. Ich musste nachfragen bei den potenziell betroffenen Jahrgängen, wer noch Opfer von Missbrauch wurde.

epd: War Ihnen damals bewusst, was dann passieren würde?

Mertes: Mit dieser Wirkung hatte ich nicht gerechnet. Dass einer der Adressaten meinen Brief weitergeben würde, war wahrscheinlich. Ich dachte, es gibt ein oder zwei kleinere Artikel im Lokalteil der Lokalpresse. So würden sich weitere Opfer melden und dann könnten wir das hier in der Schule in Ruhe aufarbeiten.

epd: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Nachricht über den Missbrauch am Canisius-Kolleg gerade zu diesem Zeitpunkt eine solche Eigendynamik entwickelt hat?

Mertes: Dafür gibt es wohl mehrere Gründe. Eine Gesellschaft muss einerseits bereit sein, diese Information aufzunehmen und zu akzeptieren. Das Thema sexualisierte Gewalt wurde durch 30 Jahre Vorarbeit der Frauenbewegung in die Öffentlichkeit gebracht. Mein Brief war wohl wie ein Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Der zweite Aspekt ist die besondere Stellung des Canisius-Kollegs als katholische Leuchtturm-Schule, 800 Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Das Kolleg ist seit der Gründung 1925 als Schule der katholischen Minderheit immer wieder umstritten gewesen. Ein weiterer Grund für die Bereitschaft der Medien, das Thema aufzugreifen, war sicherlich auch, dass ich die Vorwürfe der Betroffenen bereits als glaubwürdig anerkannt hatte. Damit war es für die Medien nicht mehr riskant, darüber zu berichten.

epd: Die Bischofskonferenz diskutiert gerade Höhe und Art von Entschädigungszahlungen an die Opfer sexuellen Missbrauchs. Sehen Sie das als Fortschritt in der Aufarbeitung?

Mertes: Ja, ich bin froh, dass das Thema endlich in der Öffentlichkeit angekommen ist. Wir, als Orden der Jesuiten, sind seit zehn Jahren mit dieser Frage beschäftigt. Und ich fand es immer problematisch, dass die für die Opfer so wichtige Frage der Entschädigung in der Öffentlichkeit inklusive der Politik und der Bischofskonferenz nie wirklich ernstgenommen worden ist.

epd: Wie hat Ihr Orden die Entschädigung geregelt?

Mertes: Wir standen damals vor vergleichbaren Forderungen nach Pauschalbeträgen in sechsstelliger Höhe. Das war für uns Jesuiten nicht zu leisten. Unser Geld steckt in der gesetzlich vorgeschriebenen Altersvorsorge unserer Mitbrüder und in unseren Institutionen, vor allem Schulen und Hochschulen. Selbst wenn wir alle pädagogischen Institutionen und Exerzitienhäuser geschlossen hätten und unsere Immobilien verkauft hätten, hätten wir nicht den Bruchteil dessen bezahlen können, was gefordert wurde. Hinzu kommt, dass die Orden nicht an den Kirchensteuern beteiligt werden. Wir zahlen seit 2010 als Anerkennung den vielzitierten pauschalen Betrag von 5000 Euro. Zusätzlich helfen wir durch individuelle Leistungen, wenn eine Entschädigung durch Geld möglich ist - also wir finanzieren Therapien, wir leisten Rentennachzahlungen, wir bezahlen Ausbildungsgänge.

epd: Auf Vorschlag der Opferverbände sind derzeit zwei Modelle im Gespräch: Eine pauschale Entschädigung in Höhe von 300.000 Euro oder individuelle Entschädigungen zwischen 40.000 bis zu 400.000 Euro im Einzelfall. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?

Mertes: Die an diesem Vorschlag beteiligten Betroffenen wollen nicht, dass untereinander eine Opferkonkurrenz entsteht und fordern daher einen pauschalen Betrag für jeden Betroffenen. Außerdem wollen sie nicht, dass die Institution entscheidet, welches Leiden wie anerkannt wird. Beides verstehe ich. In der Höhe der geforderten Summe soll sich die Anerkennung der Größe des Leids widerspiegeln. Ich finde es allerdings schwierig, dass sich Debatte auf den finanziellen Aspekt der Anerkennung verengt.

epd: Inwiefern?

Mertes: Ob die Anerkennung ernst gemeint ist oder nicht, wird oft auf die Frage reduziert, wie viel Geld bezahlt wird. Geld ist ein Medium der Anerkennung, aber Geld alleine reicht nicht. Ich fühle ich mich da als Vertreter der Institution, die zahlen soll, hineingelockt in die Logik des Ablasswesens. Ich glaube nicht daran, dass die Anerkennung über die Höhe des gezahlten Betrages auf der Beziehungsebene wirklich Frieden bringt. Ich weiß aus Hunderten Gesprächen innerhalb der vergangenen zehn Jahre, dass Geld allein nicht hilft. Mindestens genauso wichtig ist Zeit, Beziehung, das Zulassen der Auseinandersetzung.

epd: Wie sollte Ihrer Meinung nach denn die Entschädigung geregelt werden?

Mertes: Wir Jesuiten schlagen seit 2010 vor, eine unabhängige Kommission einzurichten, die über die Höhe von Entschädigungsleistungen entscheidet. Unabhängig bedeutet, unabhängig von der Kirche und unabhängig von Opferverbänden. Und ich halte daran fest, dass die Unterscheidung zwischen Anerkennungsleistung und Entschädigung wichtig ist, denn die schädlichen Wirkungen des Missbrauchs sind individuell verschieden. Für erlittenes Leid eine pauschale Leistung als Anerkennung zu zahlen, finde ich richtig. Aber wenn es darum geht, Schaden zu entschädigen, soweit er überhaupt durch Geld zu entschädigen ist, muss es eine Gewichtung geben.

epd: Wie sehen Sie den Umgang der Bischofskonferenz mit der Frage der Entschädigungen?

Mertes: Da wird nicht die ganze Wahrheit gesagt. Die Bischofskonferenz lässt bis heute diese Forderung in dieser Höhe stehen, ohne sie zu kommentieren. Das erfüllt mich mit tiefem Misstrauen. Aus meiner Sicht stehen wir ganz kurz vor einer tiefen und schweren neuen Enttäuschung der Opfervertreter.

epd: Ein Reformprozess soll die Kirche aus der Krise nach dem Missbrauch herausführen. Es geht um klerikalen Machtmissbrauch, Sexualmoral, Zölibat und Frauen in kirchlichen Ämtern. Welche Erwartungen verbinden Sie mit dem "synodalen Weg"?

Mertes: Schon in meinem Brief von 2010 stand, dass es begünstigende systemische Faktoren für den Missbrauch gibt. Es sind gesamtkirchliche Themen, die beim 'synodalen Weg' angesprochen werden. Deswegen wird es natürlich keine nationalen Lösungen geben. Aber meine Erwartung ist dennoch, dass Bischöfe und Laien mutig voranschreiten, etwas riskieren, um auf diese Weise einen ortskirchlichen Beitrag zu leisten, dass vielleicht in ein paar Jahren ein drittes Vatikanisches Konzil einberufen wird, in dem endlich mal über die Schlüsselthemen gesamtkirchlich gesprochen wird.

epd: 2016 haben Sie Rücktritte von Verantwortlichen gefordert. Wie sehen Sie die Situation heute?

Mertes: Vertuschung ist das entscheidende institutionelle Problem. Sie führt zu einem Glaubwürdigkeitsverlust. Was da in der Glaubenskongregation alles vertuscht wurde in den letzten 20 Jahren, ist nicht zu fassen. Wenn dann der Vorwurf aus dem Vatikan an die Ortskirchen kommt 'Ihr habt vertuscht', finde ich das schwierig - es stimmt zwar, aber der Vorwurf wird von Vertuschern erhoben. Da gruselt es mich.

Mir ist nicht an einer Personalisierung der Debatte gelegen, aber ich verstehe jetzt besser, warum einige Bischöfe hinter vorgehaltener Hand 2010 so über uns Jesuiten in Deutschland geschimpft haben, Personen, die inzwischen Entschuldigungsbriefe schreiben, weil sie selbst vertuscht haben.

epd: Haben Sie noch Kontakt zu den Betroffenen von damals?

Mertes: Ja, ganz viel. Seit zehn Jahren habe ich intensiven Kontakt zu Betroffenen des Canisius-Kollegs, aber auch zu vielen anderen Betroffenen.

epd: Sie sind heute Direktor des Kollegs St. Blasien im Schwarzwald. Wie gehen Sie heute mit dem Thema sexueller Missbrauch an Ihren Schulen um?

Mertes: Die Schulkultur hat sich grundlegend geändert. Die betroffenen Institutionen haben viel für die Prävention getan. Das Problem sind eher die Schulen, die meinen, dass sie nicht betroffen sind. Grundlegend ist die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle, die die Interessen von Betroffenen besser schützen kann. Jeder Schulleiter, der mit der Bezichtigung eines Kollegen konfrontiert wird, ist in einem komplexen Konflikt. So eine Ombudsperson würde ich auch jeder staatlichen Schule empfehlen.