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Senioren

Immer mehr Menschen in Pflegeheimen sind süchtig




Die Alkoholsucht von Senioren stellt die Pflegeheime vor große Probleme. (Archivbild)
epd-bild/Andrea Enderlein
Immer mehr ältere Menschen in der Pflege sind alkohol- oder tablettensüchtig. Das stellt Einrichtungen vor Probleme. In Nürnberg hilft ein Modellprojekt älteren Suchtkranken und ihren Betreuern.

Michael Krauth (Name geändert) ist 78 Jahre alt, vor einem Jahr ist seine Frau gestorben. Seitdem lebt der Mann alleine. Der Senior fühlt sich einsam. Erleichterung verschafft dem Mann nur der täglich konsumierte Alkohol. "Dann sehe ich die Welt positiver", sagt er. Krauth wird demnächst in eine Altenhilfeeinrichtung ziehen. Doch der Suchtkranke hat Angst davor, "dass ich beim Trinken erwischt werde", sagt er. Ohne seinen Seelentröster, den Wein, will er aber auch nicht leben.

"Es gibt in den Einrichtungen eine große Unsicherheit im Umgang mit suchtkranken Bewohnern", sagt Beate Schwarz, Leiterin des Projektes Suchtgefährdete Alte Menschen (SAM) vom Suchthilfezentrum der Stadtmission Nürnberg. Laut Schwarz hat jeder zehnte Altenheimbewohner eine Alkoholdiagnose. Geschätzte 25 Prozent seien medikamentenabhängig.

Nürnberg hat über 5.100 alkoholkranke Senioren

Allein im Suchthilfezentrum Nürnberg seien 2016 sieben Prozent der Hilfesuchenden über 60 Jahre alt gewesen, Tendenz steigend. Statistisch erfasst sind in Nürnberg derzeit rund 5.100 Alkoholkranke über 65 Jahren.

Schwarz sagt, man habe seit dem Start des Projektes SAM vor zwei Jahren festgestellt, dass Pflegeeinrichtungen in Nürnberg "weder quantitativ noch qualitativ auf die steigende Zahl suchtkranker Senioren eingestellt sind". Ziel des Modellprojektes SAM ist es nach Aussage der Sozialpädagogin, Pflege- und Altenhilfeeinrichtungen in der Region so zu stärken, dass sie eine gute Versorgung suchtbetroffener Senioren sicherstellen können. Auch für Angehörige gebe es spezielle Hilfe, so Schwarz.

"Wie spreche ich das Thema bei der Aufnahme in der Pflegeeinrichtung an, ohne die Menschen vor den Kopf zu stoßen", sei eine entscheidende Frage bei der Arbeit. "Wichtig ist, dass sich die Menschen nicht stigmatisiert fühlen", sagt Schwarz. Diese Erfahrung hätten viele der Heimbewohner im Alltag bereits gemacht. "Abhängigkeit wird noch immer mit Willensschwäche und Selbstverschulden gleichgesetzt." Dem Suchthilfezentrum sei es deshalb wichtig, dass die Gesellschaft verinnerlicht, "dass Suchtkranke keine Lügner sind. Die Gesellschaft macht sie durch die Tabuisierung erst dazu".

"Wir sind keine Polizisten"

Laut Schwarz sollen Suchtkranke in einer Pflegeeinrichtung offen mit dem Personal über ihr Problem sprechen können. Vokabeln wie Sucht und Missbrauch werden vom Personal vermieden. Vielmehr werden die Menschen auf die Risiken eines erhöhten Drogenkonsums angesprochen. Als oberstes Prinzip gelte aber: "Wir sind keine Polizisten. Wir sind Begleiter und bieten Hilfe an, wenn jemand einen Entzug machen möchte."

Ansonsten gelte, jeder Bewohner habe das Recht auf seine freie Entscheidung. Das heißt: "Wenn sich jemand bewusst dazu entscheidet, eine Flasche Wein pro Tag zu konsumieren, tolerieren wir das, sofern die Risiken dabei handhabbar bleiben."

Für das Pflegepersonal ist das eine Gratwanderung. 70 Prozent der Pflegekräfte wünscht sich Fortbildungen zu Suchtproblemen bei Betreuten. Schwarz aber geht anders vor. Sie will Leitlinien mit den Führungskräften der Einrichtungen erarbeiten, da es derzeit keine Vorgaben zum Umgang mit suchtgefährdeten Betreuten gebe. Die Leitlinien sollen allen Beteiligten Handlungssicherheit geben.

Sensibler Umgang gefordert

Wolfgang Brockhaus, Einrichtungsleiter des am Projekt teilnehmenden Adolf-Hamburger-Heimes mit 90 Plätzen, rät generell zu einem sensiblen Umgang mit Heimbewohnern. Als Pflegeeinrichtung dürfe man nie vergessen, dass die "Menschen erwachsen sind". "Uns steht es nicht zu, einen Entzug durchzuführen. Die Bewohner müssen ihren Alkoholkonsum selbst verantworten." Aufgabe der Pflege sei vielmehr ein "wertschätzender, nicht richtender oder beurteilender, menschenwürdiger Umgang mit erkrankten Bewohnern", sagt Brockhaus.

Von einer Gratwanderung spricht auch Matthias Menzler von der "Freien Sozialstation palliative Care-Team". Der ambulante Pflegedienst, der sich an SAM beteiligt, hat ebenso festgestellt, dass immer mehr ältere Menschen von Alkohol oder Tabletten abhängig sind. Einsamkeit, Isolation, Schicksalsschläge. All dies seien Gründe, um zum Alkohol zu greifen. Menzler bedauert, dass diese älteren Menschen "komplett durch das Raster fallen, niemand bietet ihnen Hilfe an".

Leitlinien dienen der Orientierung

Um den Menschen helfen zu können, hat das palliative Care-Team interne Leitlinien aufgestellt, die beim Umgang mit Suchtkranken eine Orientierungshilfe bieten. "Wir sehen Sucht nicht als etwas Negatives an, sondern als eine Krankheit", erklärt Menzler. Grundsätzlich gilt die Devise: "Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben selbstbestimmt zu leben. Dazu gehört auch der Konsum von Alkohol und Tabletten."

Der Pflegedienst liefert den Patienten auch Alkohol Nachhause. "Wenn wir es nicht machen, schicken die Betreuten eben den Taxifahrer zur Beschaffung los." Aber natürlich habe alles seine Grenzen. "Wir dokumentieren den Konsum ganz genau. Wenn wir feststellen, dass die Gesundheit des Patienten gefährdet ist, holen wir die Hausärzte ins Boot."

Katrin Riesterer-Kreutzer