sozial-Branche

Betreuung

Gastbeitrag

Verbandschef Becker: Es tickt eine soziale Zeitbombe




Thorsten Becker
epd-bild/Bundesverband der Berufsbetreuer/innen
Seit 13 Jahren ist die Vergütung der Berufsbetreuer nicht angehoben worden. Deshalb fordert der Dachverband mehr Geld. Doch nicht nur hier müssen Reformen her, schreibt Verbandschef Thorsten Becker in seinem Gastbeitrag für epd sozial. Um die Qualität zu sichern, werde mehr Zeit pro Betreuungsfall benötigt. Und: Der Beruf müsse professionalisiert werden, fordert er von der Bundesregierung.

Es kann jeden treffen. Jeder von uns kann Probleme bekommen, das eigene Leben selber zu regeln: eine schwere seelische Krise, ein Schlaganfall, eine fortgeschrittene demenzielle Erkrankung, eine körperliche oder geistige Behinderung. Menschen können aus vielen Gründen aus der Lebensbahn geworfen werden. Für diese Menschen leisten wir Berufsbetreuerinnen und -betreuer wertvolle Dienste.

Wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, seine Angelegenheiten selber zu managen, dann kann ihm ein Gericht einen Betreuer zur Seite stellen. Dessen Aufgabe ist es, die Rechte des Klienten zu wahren, seine Handlungsfähigkeit zu sichern und für Teilhabe an der Gesellschaft zu sorgen.

Selbstbestimmte Lebensführung

Wunsch und Wille sowie der eigene Lebensentwurf des Klienten sind für unsere gemeinsame Arbeit mit den Klienten zentralen Leitplanken. Der betreute Mensch soll zu eigenen Entscheidungen befähigt werden. So fordert es auch die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Bundesregierung 2007 unterschrieben hat. Leitbild der rechtlichen Betreuung ist die selbstbestimmte Lebensführung.

Wie komplex unsere Arbeit ist, zeigt das Beispiel von Klaudia J. aus Koblenz. 2014 erkrankte die damals 56-Jährige an paranoider Schizophrenie. Ihre Mutter kümmerte sich zunächst um die frühere Bundeswehr-Mitarbeiterin. Sie sorgte dafür, dass die Erkrankte regelmäßig zum Arzt ging und ihre Medikamente nahm. Dann starb sie, Klaudia J. blieb allein zurück – vom Leben mit der Krankheit überfordert. Die Medikamente nahm sie nicht mehr, die Wohnung ließ sie verwahrlosen, Nachbarn beschimpfte sie, den ganzen Tag lang hörte sie laut Musik. Die Beschwerden häuften sich. Schließlich sollte die Wohnung zwangsgeräumt werden. Klaudia J. brach zusammen und wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. In dieser scheinbar ausweglosen Lage wurde ein Berufsbetreuer bestellt.

Die Meinung der Ärzte war klar: Klaudia J. wird nie wieder allein leben können; sie muss ins Heim. Doch Klaudia J. war in der Einrichtung unglücklich und wünschte sich eine eigene Wohnung.

Schutz vor Verwahrlosung

Die Rahmenbedingungen waren schwierig: Die Erwerbsunfähigkeitsrente von Klaudia J. gab nur eine Bleibe am Stadtrand oder auf dem Land her. Zugleich sollte medizinische Versorgung der Klientin sichergestellt werden. Klaudia J. muss regelmäßig zum Neurologen und ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Nach vier Monaten fand der Betreuer gemeinsam mit Klaudia J. eine Wohnung im Zentrum mit guter Busanbindung.

Klaudia J. führt heute ein selbstbestimmtes Leben - mit Unterstützung durch den Berufsbetreuer. Zweimal pro Woche kommt eine Haushaltshilfe, die der Betreuer beschafft und für deren Bezahlung durch die Behörden er gesorgt hat. Die Haushaltshilfe übt mit Klaudia J. kochen, kauft mit ihr ein, putzt und bedient die Waschmaschine. So ist sichergestellt, dass die Wohnung nicht verwahrlost.

Der Betreuer hat in Abstimmung mit Klaudia J. die Aufnahme in einer Reha-Werkstatt organisiert. Der Bürojob gibt ihrem Tag eine sinnvolle Struktur und stabilisiert sie. Der Berufsbetreuer unterstützt so die Klientin bei der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts.

Zahl der Aufgaben gestiegen

Der Zeitaufwand ist in Fällen wie diesem immens. Doch wir Berufsbetreuer können nur durchschnittlich 3,3 Stunden pro Klient und Monat abrechnen, zu maximal 44 Euro pro Stunde, sofern eine verwertbare akademische Ausbildung vorliegt. Bis 2005 durften wir die tatsächlich aufgewandte Zeit abrechnen, seither sind die Stundenkontingente und -sätze pauschaliert. Eine Erhöhung der Zahlungen gab es in den inzwischen mehr als 13 Jahren nicht.

Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Aufgaben gestiegen, die wir für und mit unseren Klienten wahrnehmen. Antragsverfahren wurden umfangreicher und Bewilligungszeiträume verkürzt, weswegen heute Anträge häufiger gestellt werden müssen. Auch ist es deutlich schwieriger geworden, Leistungen für Klienten bewilligt zu bekommen. Der Schriftverkehr mit den Behörden füllt in jedem Betreuerbüro viele Aktenordner.

Die Folge: Wir können uns weder genügend Zeit für die Klienten nehmen, noch wird unsere Arbeit leistungsgerecht vergütet. Das kann zu Qualitätsdefiziten führen, auf die wir als Verband seit Jahren hinweisen - und die inzwischen auch wissenschaftlich erwiesen sind.

Unbezahlte Mehrarbeit

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat 2015 bis 2017 in einer Studie die Qualität in der Betreuung vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) und der Technischen Hochschule Köln untersuchen lassen. So belegte die Studie einen deutlichen Unterschied zwischen geleisteter und vergüteter Arbeit. Wir Betreuer wenden durchschnittlich mindestens 4,1 Stunden pro Klient und Monat auf, um das Pensum einigermaßen zu schaffen: Wir leisten also 0,8 Stunden unbezahlte Mehrarbeit, was sich bei zehn Klienten bereits auf acht Stunden pro Monat summiert.

Die prekäre Lage betrifft nicht nur selbstständige Betreuer, sondern wirkt sich auch auf angestellte Vereinsbetreuer aus. Um qualifizierte Fachleute als Berufsbetreuer in den Betreuungsvereinen zu refinanzieren, müssen jährlich 92.000 Euro für Personal- und Sachkosten aufgewendet werden, wenn man sich an den entsprechenden Tarifen im öffentlichen Dienst und bei Wohlfahrtsverbänden orientiert. Mit den aktuellen Pauschalsätzen lassen sich jedoch nur rund 69.000 Euro refinanzieren.

Nur durch geschickte Organisation, ein ausgeklügeltes Delegieren von Aufgaben sowie der Inanspruchnahme von kaum noch vorhandenen Rücklagen lassen sich Betreuungsvereine auf dieser Basis heute noch managen. Das Gleiche gilt für die fachliche Unterstützung von ehrenamtlichen Betreuern, was eine Kernaufgabe von Betreuungsvereinen ist. Auch hier reichen die Zuschüsse der Länder meist bei weitem nicht aus, um die Personal- und Sachkosten zu tragen.

Suche nach Nachwuchs schwierig

Die Folge: Rücklagen werden aufgebraucht, Mitarbeiter unter Tarif bezahlt und immer mehr Betreuungsvereine müssen aufgelöst werden. Viele meiner Kollegen mit eigenen Büros gehen pleite oder geben auf. Nachwuchs für unseren Beruf lässt sich unter den gegebenen Umständen kaum rekrutieren.

Auf der Strecke bleiben die Menschen, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Hier tickt eine soziale Zeitbombe. Die Folgekosten werden den deutschen Staat mehr belasten als eine Verbesserung der Rahmenbedingungen jetzt.

Die Studie des Bundesjustizministeriums bildet eine objektive, empirisch repräsentative Grundlage für eine umfassende Reform. Das Ziel ist klar: Wir wollen mehr Qualität und Professionalität in der rechtlichen Betreuung.

Nach dem Scheitern einer Gesetzesänderung zur Vergütungserhöhung im Bundesrat 2017 erwarten wir von der großen Koalition eine neue Gesetzesinitiative sowie die Umsetzung der im Koalitionsvertrag angekündigten strukturellen Verbesserungen im Betreuungswesen.

Professionalisierung der Berufsbetreuung

Um das System Betreuung kurzfristig zu sichern, fordern wir, die Zahl der vergüteten Stunden an die tatsächlich geleistete Arbeit anzupassen und von durchschnittlich 3,3 auf 4,1 anzuheben. Außerdem fordern wir eine Erhöhung der Stundensätze in der obersten Stufe von derzeit 44 auf 55 Euro pro Stunde.

Die Rahmenbedingungen in der rechtlichen Betreuung müssen langfristig den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention angepasst werden. Dabei spielt der Faktor Zeit für Klienten eine zentrale Rolle. Im Fokus steht dabei die sogenannte "unterstützte Entscheidungsfindung" - ein gemeinsames Verfahren, durch das der Klient befähigt wird, eigene Entscheidungen in der persönlichen Lebensführung zu treffen. Durch unterstützte Entscheidungsfindung wirken Klienten souverän am Entscheidungsprozess mit - ihr Selbstbestimmungsrecht wird gesichert. Das ist eine betreuungsrechtliche Pflicht.

Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist aus unserer Sicht die Professionalisierung der Berufsbetreuung zwingend nötig. Bis heute ist der Beruf des rechtlichen Betreuers nicht anerkannt. Weder die Ausbildung noch der Zugang zum Beruf sind geregelt. Wir schlagen die Errichtung einer Betreuerkammer vor, die den Berufszugang steuert, eine verbindliche Berufsordnung erlässt sowie die beruflich tätigen Betreuerinnen und Betreuer beaufsichtigt.

Thorsten Becker ist Diplom-Pädagoge und seit 2014 Vorsitzender des Bundesverbands der Berufsbetreuer/innen e.V..