sozial-Politik

Rechtspopulismus

Interview

"Keinerlei Sensibilität für das Problem der sozialen Spaltung"




Sie haben ein Buch über das erste Jahr der AfD im Bundestag geschrieben: Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges und Gerd Wiegel (v.li.).
epd-bild/Jürgen Blume
Die AfD stellt sich erfolgreich als Schutzmacht "der kleinen Leute" dar. Insbesondere Menschen mit Verlustängsten machen ihr Kreuz bei den Rechtspopulisten. Doch was hat ihnen die AfD tatsächlich zu bieten: in der Steuerpolitik, der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialpolitik? Ein Interview mit drei Politikexperten über die Partei, ihr Programm und ihr Verhalten im Bundestag.

Seit genau einem Jahr ist die AfD im Bundestag. Die Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge und Gudrun Hentges haben sie dort beobachtet. Ihre Analyse: Sozial Benachteiligte spielten zwar in der AfD-Propaganda eine zentrale Rolle – jedenfalls wenn sie Deutsche sind –, nicht aber in der Parlamentstätigkeit der Partei. Die beiden Forscher haben mit Gerd Wiegel, Referent der Linksfraktion im Bundestag, das kürzlich erschienene Buch "Rechtspopulismus im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD" geschrieben. Sie antworteten auf die Fragen von Markus Jantzer.

epd sozial: Sie haben die AfD seit ihrem erstmaligen Einzug in den Deutschen Bundestag im September 2017 ein Jahr lang beobachtet. Mit welchen Themen versucht sich die Fraktion jenseits der Flüchtlingsproblematik zu profilieren?

Christoph Butterwegge: Fast alle anderen Themen behandelt die AfD stiefmütterlich und halbherzig, bringt sie aber grundsätzlich mit ihrem Kernthema "Migration und Flüchtlinge" in Verbindung. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, alle Probleme unseres Landes seien von einer "Massenzuwanderung", von "Millionen illegalen Grenzverletzern" und der seit 2015 anhaltenden "Flüchtlingskrise" verursacht. Wenn Vertreter der etablierten Parteien wie Bundesinnenminister Horst Seehofer durch seine Behauptung, Migration sei die Mutter aller politischen Probleme, diese Position teilen, stärken sie die AfD. Armut ist die Mutter aller Migrationsbewegungen, weshalb nicht die Geflüchteten, sondern die wachsende soziale Ungleichheit und die Armut bekämpft werden müssten.

epd: Nach Wahlanalysen wird die AfD überdurchschnittlich häufig von Menschen gewählt, die Abstiegsängste haben, Angst vor den Folgen der Globalisierung und der Digitalisierung. Darunter sind auch Menschen, die seit Jahren einen Niedergang ihrer wirtschaftlich schwachen Region und einen Verfall der Infrastruktur erleben. Was können diese Menschen von der AfD erwarten?

Gerd Wiegel: Nichts, jedenfalls nichts, was ihnen real hilft oder ihre Situation verbessert. Die AfD gaukelt den Menschen vor, es gäbe ein Zurück zum weitgehend abgeschotteten Nationalstaat, zu einem "Deutschland zuerst", mit dem sie vor den Zumutungen der Globalisierung geschützt würden. Für ein Land, das aber vor allem von seiner Exportwirtschaft lebt, ist das eine fatale Strategie. Anstatt für eine soziale Ausgestaltung der Globalisierung, für gemeinsame und hohe soziale Mindeststandards und für eine Globalisierung eben nicht nur im Sinne des großen Kapitals zu kämpfen, setzt die AfD auf Abschottung und Konkurrenz gerade derer, die negativ von der jetzigen Form der Globalisierung betroffen sind. Indem sich die AfD z.B. strikt gegen die Vereinbarung sozialer Mindeststandards innerhalb der EU ausspricht, sorgt sie dafür, dass der Migrationsdruck aus den ärmeren EU-Ländern nach Deutschland hoch bleibt.

epd: In welcher Weise setzen sich AfD-Parlamentarier für sozial Benachteiligte ein? Welchen Stellenwert hat das Themenfeld Sozialpolitik bei der AfD?

Butterwegge: Sozial benachteiligte Deutsche spielen zwar eine zentrale Rolle in der AfD-Propaganda, nicht aber in der Politik und der Parlamentstätigkeit dieser Partei. Alexander Gauland, ihr Partei- und Fraktionsvorsitzender, nennt die AfD eine "Partei der kleinen Leute", sie ist jedoch eine Partei des großen Geldes, wenn man ihre Sponsoren betrachtet, und eine Partei der Privilegierten, wenn man ihre Steuerpolitik betrachtet: Beispielsweise will sie ausgerechnet die Vermögen- und die Erbschaftsteuer abschaffen, also zwei Steuerarten, die Unterprivilegierte gar nicht zahlen müssen. Sozialpolitik nimmt gegenüber der Familien- und Bevölkerungspolitik eine untergeordnete Stellung ein. Sozial ist für die AfD, was Arbeit schafft, und nicht, was Armut abschafft. Dabei setzt sie den neoliberalen Rezepten folgend auf das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland.

epd: Wie will die AfD die soziale Spaltung in Deutschland überwinden, die unter anderem durch große und weiter wachsende Unterschiede bei Einkommen, Vermögen und Chancen gekennzeichnet ist?

Butterwegge: Für das Problem der sozialen Spaltung, d.h. die sich immer mehr vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, zeigt die AfD keinerlei Sensibilität. Dies zeigt sich exemplarisch beim Thema "Wohnungsnot und explodierende Mieten in den Ballungszentren". Denn die AfD hat im Bundestag gegen alle Anträge für eine wirksame Mietpreisbremse gestimmt. Wenn überhaupt, plädiert die Partei für eine exklusive Solidarität der Einheimischen unter Ausschluss der Zugewanderten. Aber auch die einheimischen Benachteiligten dürfen sich keine Hoffnungen machen, denn die AfD sieht überhaupt keine Notwendigkeit zur Umverteilung von oben nach unten. Vielmehr konstruiert sie einen Innen-Außen-Gegensatz und betrachtet Armut nicht als strukturelles Problem, sondern als Importprodukt, das Flüchtlinge und Migranten aus weniger entwickelten EU-Staaten nach Deutschland eingeschleppt haben. Völlig ignoriert wird, welche Rolle unsoziale Reformen der Bundesregierung wie Agenda 2010, Einführung der Riester-Rente und Hartz-Gesetze dabei gespielt haben.

epd: Wie steht die AfD zur Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen, die sich in befristeten Jobs, Niedriglohnjobs sowie unfreiwilliger Teilzeitarbeit ausdrückt?

Gudrun Hentges: Das Programm der AfD ist in dieser Hinsicht sehr widersprüchlich. Sie hat zwar im Vorfeld der Bundestagswahl behauptet, die Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen wirke sich negativ auf den Wohlstand aus, und forderte eine gesetzliche Obergrenze von 15 Prozent Beschäftigten mit Leih- oder Werkverträgen in Unternehmen. Auch wollte die AfD erreichen, dass eine Leiharbeit nach sechs Monaten in eine Festanstellung umgewandelt werden müsse. Mittels dieser Forderungen versucht(e) die AfD ganz gezielt, prekär Beschäftigte oder Teile der Randbelegschaft als Wählerbasis zu rekrutieren. Eine ähnliche Instrumentalisierung der sozialen Frage findet sich auch beim Front National in Frankreich.

epd: Wie steht die AfD zur Benachteiligung von Frauen in Betrieben, also etwa dazu, dass Frauen schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen oder dass sie weniger Führungspositionen bekleiden?

Hentges: Für die Benachteiligung von Frauen, den Gender pay gap und die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen interessiert sich die AfD nicht. Gleichstellung der Geschlechter, Antidiskriminierungsmaßnahmen und Gender Mainstreaming bilden bei ihr eine Projektionsfläche für all das, was es zu bekämpfen gilt. Umgekehrt sucht sie zum Beispiel, die angebliche Diskriminierung der Vollzeit-Mütter zu stoppen, und möchte Mütter dazu ermutigen, ihre Berufstätigkeit zugunsten von Kindererziehung und Familienarbeit aufzugeben. Diskriminierungen, die erwerbstätige Frauen erfahren, sei es hinsichtlich des ungleichen Lohns oder seien es sexistische Übergriffe, begreift die Partei nicht als relevantes Problem. Wenn es bei ihr um Frauen geht, dann im Rahmen der Familien- und Bevölkerungspolitik. (Deutsche) Frauen interessieren nur insofern, als sie die vorrangige Aufgabe haben, durch möglichst viele Geburten das deutsche Volk zu reproduzieren.

epd: Wie steht die AfD zu den Gewerkschaften und dem branchenübergreifenden Rückgang der Tarifbindung?

Wiegel: Gewerkschaften werden von der AfD als Gegner, ja teilweise als Feind definiert. Im Rahmen der jüngsten Betriebsratswahlen gab es gezielte Versuche, mit Konkurrenzlisten anzutreten, um die Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben zu untergraben. In einigen ostdeutschen Landesverbänden gibt es Versuche, sogenannte alternative Arbeitnehmervertretungen zu gründen, um die DGB-Gewerkschaften zu schwächen. Gründe dafür sind die klare Positionierung der Gewerkschaften gegen die extreme Rechte, aber auch ein Verständnis von Arbeitsmarktpolitik bei der AfD, das vor allem die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen ins Zentrum rückt, wohingegen die Beschäftigten in der zweiten Reihe stehen bleiben. So werden die Tarifflucht von Unternehmen und der Rückgang der Tarifbindung unsinnigerweise den Gewerkschaften angelastet, ohne dass sich die AfD bisher für eine Stärkung der Tarifbindung stark gemacht hätte. Für eine Partei, die viele regionale Hochburgen in Ostdeutschland hat, wo das Problem besonders gravierend ist, ist das eine markante Leerstelle.

epd: Welche Position hat die AfD zu den Hartz-IV-Gesetzen erarbeitet?

Butterwegge: Dazu hört man von der AfD wenig Substanzielles. Weder denkt die AfD an eine Anhebung der viel zu niedrigen Regelbedarfe für Hartz-IV-Bezieher, noch will sie den Kontrolldruck seitens der Jobcenter verringern und die Sanktionen abschaffen.

epd: In der Rentenpolitik ist die AfD in zwei Lager geteilt: Die eine Gruppe fordert mehr Privatisierung in der Altersvorsorge, die anderen wollen die gesetzliche Rentenversicherung stärken und das Rentenniveau anheben. Geht das zusammen? Wie und wann wird sich die AfD nach ihrer Einschätzung in dem Meinungsstreit entscheiden?

Butterwegge: Da sich die Hauptströmungen der AfD, der wirtschaftsliberale und der völkisch-nationalistische Parteiflügel, bisher nicht auf ein Rentenkonzept haben einigen können, bleibt im Dunkeln, wie die Altersarmut bekämpft werden soll. Hier liegt eine Leer- und Schwachstelle der AfD, die sie durch einen Sonderparteitag im nächsten Jahr beseitigen will. Kommt es dort zu einer Kampfabstimmung über die Rentenpolitik, steht die AfD vor einer Zerreißprobe. Unabhängig davon, wer sich am Ende durchsetzt, sollen Ausländer im Rentenrecht benachteiligt und Eltern bevorzugt werden. Ersteres wäre verfassungswidrig und Letzteres mehr als zweifelhaft, weil Menschen, die ungewollt kinderlos geblieben sind, Jahrzehnte später mit Altersarmut bestraft würden.

epd: Wird die AfD mit ihrem Weltbild und ihren Erklärungsmustern noch lange eine starke politische Kraft bleiben? Oder werden sich viele Wähler schon bald abwenden, weil sie seriöse Antworten auf drängende politische Fragen vermissen?

Hentges: Zwar sind solche Prognosen schwer zu treffen, das von der AfD vertretene Weltbild und die von ihr verbreiteten Erklärungsmuster existierten jedoch bereits in der Bevölkerung, bevor die AfD ihren ersten Wahlerfolg verzeichnete. Die einschlägigen Untersuchungen dokumentierten seit dem Jahrtausendwechsel, dass Autoritarismus, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus keine ideologischen Randerscheinungen sind. In großen Teilen der Bevölkerung stoßen Einstellungen dieser Art auf Zustimmung. Selbst wenn sich die AfD nicht fest im politischen System der Bundesrepublik etablieren, sondern wieder von der parlamentarischen Bühne verschwinden sollte, würden die genannten Einstellungsmuster relevant bleiben und könnten je nach Gelegenheit wieder von einer Partei am rechten Rand aufgegriffen werden.

epd: Welche Möglichkeiten sollten die konkurrierenden Parteien nutzen, um inhaltliche Schwächen und Widersprüche der AfD publikumswirksam zu entlarven?

Hentges: Die mit der AfD konkurrierenden Parteien sollten deutlich machen, dass diese auf den allermeisten Politikfeldern weder über Expertise noch über ein Konzept verfügt – sei es in Bezug auf die Gesundheitspolitik, die Sozialpolitik oder die Rentenpolitik. AfD-Vertreter sollten z.B. in Talkshows nicht mit dem Asylthema punkten können, die eingeladenen AfD-Politiker müssten vielmehr dazu gezwungen werden, sich auf anderen Politikfeldern zu positionieren. Spätestens dann dürfte sich zeigen, dass die AfD-Polemik immer auf die Ethnisierung des Sozialen hinausläuft und dass die Partei wenig oder nichts zu bieten hat, was für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft von Nutzen sein kann.

epd: Wird die AfD an ihren inhaltlichen Widersprüchen – und dem parteiinternen Streit darüber – scheitern?

Wiegel: Im Moment sieht es so aus, als könne sich die AfD nur selbst ein Bein stellen. Die inhaltlichen Widersprüche können ein Stolperstein sein, z.B. bei den Themen Rente, Mietpreise, Steuerpolitik usw. Gegenwärtig werden aber alle inhaltlichen Konflikte durch die anhaltende Erfolgswelle der Partei überdeckt. Schwächt sich diese ab oder gibt es gar deutliche Rückschläge, dann werden die inhaltlich teils gegensätzlichen Konzepte deutlicher nach außen treten. Aktuell gefährlicher scheint die anhaltende und immer deutlichere Rechtsentwicklung der AfD für die Partei zu seien. Die Ereignisse von Chemnitz haben gezeigt, dass es eine offene Zusammenarbeit mit gewaltbereiten Rechtsextremisten und einem Teil der Neonazi-Szene gibt. Das hat bürgerlich-konservative AfD-Anhänger aufgeschreckt, die sich jetzt verwundert die Augen reiben und fragen, wo die Radikalisierung nach rechts endet. Die erneut aufgeflammte Diskussion um eine Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz verstärkt das noch.

Literatur: Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges, Gerd Wiegel. Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD. Westend Verlag, Frankfurt am Main, Oktober 2018



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