

Bamberg (epd). Nachts joggt Andrew (Name geändert). Wenn sich die anderen zur Ruhe begeben haben, wenn sie versuchen zu schlafen, wenn er niemanden mehr hat, mit dem er reden kann, schnürt Andrew seine Laufschuhe. Er läuft im "Camp", wie die Flüchtlinge die Aufnahmeeinrichtung Oberfranken in Bamberg nennen. Oder er läuft aus dem Camp hinaus in die Stadt. Andrew läuft seinen Gedanken davon: "Ich kann schon lange nicht mehr ohne Licht einschlafen."
Andrew ist einer von rund 1.400 Menschen, die derzeit in der Aufnahmeeinrichtung auf einem ehemaligen Gelände der US-Army leben. Seit zwei Jahren ist das Camp nicht nur Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber, sondern auch Ankunftszentrum. Weshalb in Bau C auf dem Gelände in der Buchenstraße eine Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge untergebracht ist. Das Asyl-Team des Bamberger Amts für soziale Angelegenheiten, das Verwaltungsgericht und die Zentrale Ausländerbehörde befinden sich ebenfalls auf dem riesigen Gelände.
Damit kommt die Aufnahmeeinrichtung der Idee von Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückführungszentren des Bundesinnenministeriums so nahe, dass sie als Modell für die sogenannten "Ankerzentren" dient. Bald soll sie offiziell ein Ankerzentrum sein. Anfang Juni beschloss das bayerische Kabinett, dass in jedem Regierungsbezirk so ein Zentrum geschaffen werden soll. Bis zum 1. August soll es eine entsprechende Vereinbarung mit dem Bund geben. Zwischen 1.000 und 1.500 Personen sollen jeweils in den Zentren untergebracht sein.
Andrew lebt seit sieben Monaten in der Aufnahmeeinrichtung. Er floh aus Nigeria - einem Land, in dem die Terrormiliz Boko Haram einen blutigen Kampf gegen Regierung und Volk führt. Andrew wurde Opfer dieses Kampfes. Er sei gefangen genommen worden, erzählt er. Er hatte zu fliehen versucht. Da hätten sie auf ihn geschossen. Andrew hält kurz, nur ganz kurz, seine linke Hand hoch. Drei Finger fehlen. Die mussten nach der Schießerei amputiert werden. Wird es stockdunkel um ihn, sieht Andrew immer wieder diese Szenen. Wie er zu fliehen versucht hatte. Wie sie auf ihn schossen.
Viele, die in der Aufnahmeeinrichtung leben, kommen nachts nicht mehr zur Ruhe. Denn nachts kommt die Polizei. Schätzungsweise einmal in der Woche, sagt Mirjam Elsel, Pfarrerin in Hirschaid-Buttenheim und Koordinatorin für die Arbeit mit Flüchtlingen im Dekanatsbezirk Bamberg, fährt ein Polizeiauto ins Camp und holt einen der Bewohner ab. "Bis vor kurzem geschah das sogar mit Blaulicht, so dass es wirklich jeder in der Aufnahmeeinrichtung mitbekommen hat", erzählt sie. Dagegen hatten Flüchtlingsorganisationen protestiert. Ob sie es jetzt anders machen, weiß Elsel nicht. Sie ist nachts nicht im Camp. Ohnehin ist sie nicht allzu oft vor Ort. Meist nur dann, wenn sie einen Geflüchteten, der bei ihr in der Kirchengemeinde lebt, zur Zentralen Ausländerbehörde im Camp begleitet.
Auch dann kommt die Pfarrerin nicht einfach so in die Einrichtung hinein. Elsel muss ihren Pass abgeben. Wird von der Security begleitet. Immerhin kommt sie hinein ins Camp. Journalisten ist der Zutritt verwehrt. Besuche von Pressevertretern seien nur bei Sammelterminen möglich, erklärt die Bezirksregierung von Oberfranken. Termine dafür werden immer erst kurz vorher bekanntgegeben. Und der Tross ist dann meist so groß, dass intensive Gespräche oder Einzelgespräche mit Asylsuchenden kaum möglich sind. Als "Safari" haben einige Teilnehmer des Pressetermins die Art und Weise des Rundgangs bezeichnet. Der Evangelische Pressedienst (epd) hat deshalb auf die Teilnahme an einem solchen Termin verzichtet.
Auch Mirjam Elsel ist gehalten, mit den Geflüchteten nur zu den Behörden zu gehen: "Dass wir Leute in ihren Wohnungen besuchen, wird nicht gern gesehen." Aber natürlich war die Pfarrerin schon manchmal in Wohnungen drin. Es sind weitläufige, um die 100 Quadratmeter große Wohnungen. Meist mit einem sehr großen Zimmer, in dem oft sechs bis sieben Leute leben.
"Die Küchen haben sie überall ausgebaut", sagt Elsel. Die Menschen können sich also in den Wohnungen nichts kein Essen zubereiten. Erst habe die Regierung durchsetzen wollen, dass überhaut keine Lebensmittel in den Wohnungen sein dürfen, erzählt Elsel. Das habe sie aber wieder aufgegeben. Denn die Kinder haben auch dann Hunger, wenn die Kantine geschlossen hat. Kinder gibt es viele. Andrew wohnt mit drei Kindern aus Nigeria zusammen. Eines ist gerade einmal eine Woche alt. Insgesamt leben 19 Menschen in der Wohnung mit vier Zimmern, der er zugeteilt worden ist: 16 Erwachsene und drei Kinder.
Die größeren Kinder gehen im Camp in die Schule. Angebote für Vorschulkinder gibt es nicht. Der Bamberger Verein "Freund statt fremd" wollte eine Spielstube organisieren. Doch das war schwierig, sagt Vereinsmitglied Thomas Bollwein: "Plötzlich hatten die Ehrenamtlichen 40 Kinder zu betreuen, das war kaum zu leisten." Jetzt im Sommer ist die Spielstube geschlossen.
"Mit das Schlimmste ist, dass es keinerlei Privatsphäre gibt", sagt Markus Ziebarth von der Caritas, die dort Asylsozialberatung anbietet. Es gebe keine abschließbaren Räume, keine Schließfächer. Privateigentum sei völlig ungeschützt. Oft wird geklaut.
Die einzige Ausnahme stellt das Gebäude für allein reisende Frauen dar: "Hier ist zumindest die Haustüre abschließbar." Die Frauen müssten aber, wenn sie das Gebäude betreten, daran denken, sich umzudrehen und abzusperren. Denn die Tür fällt nicht automatisch ins Schloss. Viele vergessen das: "Daran merkt man, mit wie wenig Elan das Thema 'Schutz' verfolgt wird", sagt Ziebarth. Der "Gipfel der Unverschämtheit" bestehe darin, dass Familien mit allen reisenden Männern in Wohnungen zusammenpfercht werden: "Weil die Familien eine beruhigende Wirkung auf die Männer hätten." Auch wären die Wohnungen viel sauberer, sagt die Regierung: "Doch das geht zu Lasten der Frauen, die sorgen dafür, dass es sauber ist."
"Wir sind im Moment 20 in einer Wohnung", erzählt Even (Name geändert), der vor drei Jahren aus Eritrea floh. Zu sechst lebt er mit anderen in einem Raum. Die insgesamt 20 Leute teilen sich eine Dusche und eine Toilette. Toilettenpapier wird zu festgesetzten Terminen rationiert ausgegeben. Auch Even schläft nachts kaum. "Ich gehe spazieren", erzählt der 21-Jährige. Schlaftabletten will er nicht nehmen. Irgendwann ist der junge Mann so müde, dass er einschläft.
Das klappt bei Andrew nicht mehr. Andrew schluckt seit sieben Monaten Schlaftabletten. Die nimmt er nachmittags. Nach dem Basisdeutschkurs in den Räumen von "Freund statt fremd". Nach dem Kurs geht er zurück ins Camp, nimmt die Medizin ein, schläft einige Stunden, dann ist es Abend. Später joggt er wieder. Andrew und Even haben inzwischen ihren Ablehnungsbescheid erhalten. Beide rechnen damit, dass sie eines Nachts geholt werden. Andrew hat sich zwar einen Anwalt genommen und will klagen. Doch er erwartet, dass ihm das nichts nützt.
Letzthin kam er nachts vom Joggen zurück, es war 4.48 Uhr am Morgen, da waren sie wieder da, haben wieder einen mitgenommen, von dem er bestimmt weiß, dass er gerade dabei ist, gegen seinen Bescheid vorzugehen. Weil sie Angst haben, geholt zu werden, tauchen manche Bewohner nachts bei anderen unter. "Dann können schon mal 25 Leute in einer Wohnung sein", sagt Pfarrerin Mirjam Elsel. Verboten ist das nicht. Im Camp darf sich jeder frei bewegen: "Es ist ja kein Gefängnis."
Die Angst, die alle haben, erzeuge eine unglaubliche Spannung im Camp. Und die bekomme jeder mit, der sich ein kleines bisschen länger dort aufhalte, sagt Thomas Bollwein vom Verein "Freund statt fremd". Diese ständige Angst, verbunden mit der Perspektivlosigkeit, verändere die Bewohner, ergänzt Elsel: "Es ist absolut erschreckend, was in einem einzigen Jahr aus den Menschen wird." Immer wieder erzählt man ihr von Suizidversuchen. Immer wieder müssten Bewohner in die Psychiatrie eingeliefert werden.
Die angstvolle Spannung steht im Widerspruch zur sommerlichen Idylle, die das Gelände ausstrahlt. Alles ist grün. Die Häuser sind im guten Zustand. Ohne die Absperrzäune und den dreifachen Stacheldraht könnte man sich durchaus vorstellen, hier zu leben. "Das Areal ist in Ordnung", bestätigt Mustapha (Name geändert), der seit Mai in der Aufnahmeeinrichtung lebt. Aktuell teilt er sich ein Zimmer mit sechs anderen Männern aus Nigeria. Das erträgt er noch. Richtig schlimm ist für ihn das Essen: "Dauernd gibt es Pasta, jeden Abend Brot." Er kann sich nicht selbst verpflegen. Wie die meisten Campbewohner muss er mit 100 Euro im Monat auskommen.
"Beim Essen zeigt sich, in welchem Maße die Menschen dadurch zermürbt werden sollen, dass ihnen jegliche Selbstbestimmung genommen wird", kommentiert Elsel. Während Mustapha vor dem Camp über sich erzählt, kommt ein Wachmann an den Zaun gerannt. Es sei verboten, vor dem Zaun zu stehen und zu sprechen, lässt er von seiner Chefin ausrichten - auf Englisch. Mustapha erzählt weiter, ignoriert die Anweisung des Mannes. Er steht auf öffentlichem Grund außerhalb des Camps.