Ausgabe 48/2017 - 02.12.2016
Berlin (epd). Die Zuschauertribüne war voll besetzt, als der Bundestag am 1. Dezember in Berlin mit den Stimmen der Koalition das neue Bundesteilhabegesetz verabschiedet hat. In der lebhaften Debatte vor der Abstimmung sprach Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) von einem wichtigen Schritt auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Demgegenüber hielt die Opposition der Koalition vor, nur durch die Proteste der Behindertenbewegung seien neue Härten für behinderte Menschen abgewendet worden. Die Linke stimmte gegen das Gesetz, die Grünen enthielten sich.
Das neue Gesetz war in Nahles' Ministerium unter Beteiligung der Verbände und Selbsthilfeorganisationen vorbereitet worden. Umso größer war die Enttäuschung, als der Entwurf vorlag. Etliche Regelungen hätten zu Verschlechterungen geführt. Dass sich die Koalition in den vergangenen Wochen dem Protest beugte und noch fast 70 Änderungen beschloss, spielte bei der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag eine große Rolle. Zwar habe sie sich auch mal geärgert, sagte Sozialministerin Nahles, doch sei es gut und ein Ausdruck von Normalisierung, dass sich die behinderten Menschen inzwischen lautstark zu Wort melden.
Auch Paul Haubrich, Geschäftsführer des Club Aktiv, einer Selbsthilfeorganisation aus Trier, war quer durch die Republik angereist. Der Rollstuhlfahrer zeigte sich überzeugt, dass erst die wochenlangen Proteste der Behindertenbewegung für die Nachbesserungen gesorgt haben. So sei etwa "die unsägliche Regelung" verhindert worden, dass nur behinderte Menschen, die in fünf von neun Lebensbereichen eingeschränkt sind, Leistungen bekommen sollten, sagte Haubrich dem Evangelischen Pressedienst: "Das hätte sehr viele Menschen mit Behinderungen betroffen", wahrscheinlich auch ihn selbst.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt bescheinigte der Koalition zwar eine ernsthafte Beratung der Reform, erklärte aber zugleich, die hohen Erwartungen der behinderten Menschen seien enttäuscht worden. Sie verglich das Bundesteilhabegesetz mit einem Hausbau, bei dem es am Ende nur zu einer Garage gereicht habe. Noch immer könnten Menschen aus Kostengründen gezwungen werden, ins Heim zu ziehen. Von Freiheit und Autonomie könne da keine Rede sein.
Der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, warf der Bundesregierung vor, das Recht auf Teilhabe nicht umgesetzt zu haben: "Teilhabe ist eine menschenrechtliche Verpflichtung", die die Koalition aus Kostengründen nicht erfülle, bilanzierte Bartsch. Die Menschen mit Behinderungen seien auf die Straße gegangen, "weil sie sich betrogen fühlen".
Das neue Bundesteilhabegesetz ordnet die Assistenzleistungen für behinderte Menschen künftig dem Behindertenrecht und nicht mehr der Sozialhilfe zu. Es soll ihre Teilhabe und Autonomie verbessern und dazu beitragen, die UN-Behindertenrechtskonvention in deutsches Recht umzusetzen. Aus der Eingliederungshilfe werden beispielsweise Fahrdienste, Assistenzleistungen, Ausgaben für Blindenhunde oder Arbeitsplätze in Werkstätten für behinderte Menschen finanziert.
Im Einzelnen verbessert das Gesetz die finanzielle Situation berufstätiger behinderter Menschen. Sie können deutlich höhere Ersparnisse behalten und auch mehr von ihrem Einkommen. Einkünfte von Ehepartnern werden nicht mehr auf die Eingliederungshilfe angerechnet. Bisher führen die Anrechnungsregelungen zu großen Härten und stellen Behinderte teilweise schlechter als Hartz-IV-Empfänger. Für behinderte Menschen, die in Werkstätten arbeiten, verdoppelt sich das Arbeitsförderungsgeld. Das Gesetz sieht außerdem Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber vor, die Behinderte einstellen.
Die Beantragung von Leistungen soll einfacher und die Beratung verbessert werden. Verschoben wurde indes das Vorhaben, die Voraussetzungen für die Leistungen neu zu bestimmen, nachdem Behindertenverbände massiv gegen drohende Leistungsausschlüsse etwa für blinde Menschen durch die "Fünf von Neun"-Regelung protestiert hatten.
Der Bund erhöht seine Aufwendungen für die Behindertenhilfe um rund 800 Millionen Euro im Jahr bei gegenwärtigen Gesamtausgaben in Höhe von 17 Milliarden Euro, die von den Ländern bzw. den Kommunen getragen werden. Rund 700.000 Menschen erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe.
Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, erklärte, das Gesetz biete eine Basis für die weitere Arbeit. Es seien Verbesserungen erreicht worden, doch gebe es noch zu viel Spielraum für die Kostenträger, Leistungen zu verweigern. Sozialverbände begrüßten die Leistungsverbesserungen und den Schritt aus der Fürsorge in ein modernes Teilhaberecht.