Ausgabe 46/2016 - 18.11.2016
Frankfurt a.M. (epd). Hartz-IV-Bezieher sollen nach dem Willen der Bundesregierung ab dem nächsten Jahr mehr Geld bekommen. So soll der monatliche Regelsatz für einen alleinstehenden Langzeitarbeitslosen von 404 auf 409 Euro steigen, Paare würden vier Euro pro Person mehr bekommen. Doch ob damit das Existenzminimum wirklich gesichert wird, bleibt weiter umstritten. Sozialverbände und Gewerkschaften fordern deutlich mehr Geld. Meist haben sie eigene Berechnungen angestellt - doch ihre Ergebnisse unterscheiden sich deutlich.
Die Sozialexperten erklären das vor allem mit den Entscheidungen darüber, was ein Hartz-IV-Empfänger zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben braucht - und was eben nicht. Sollte Hilfeempfängern Geld für Alkohol oder Zigaretten zustehen? Was ist mit zusätzlichen Hilfen für den Stromverbrauch? Was mit Schnittblumen oder Tierfutter? Soll Kindern mehr Geld für Schulbedarf gewährt werden?
Einig sind sich Verbände und Gewerkschaften in zwei Punkten: Die Hartz-IV-Sätze bleiben auch nach der Erhöhung, die die Bundesregierung ab 2017 vornehmen will, zu niedrig. Zudem eint sie die Kritik am Berechnungsverfahren. Deshalb fordert der Deutsche Caritasverband, die Grundsicherung fair zu berechnen: "Hier liegt einiges im Argen", sagt Generalsekretär Georg Cremer. Und er betont, dass das Rechenverfahren "keine akademische Übung unter Statistikern ist, sondern eine eminent politische Frage".
Das heutige Statistikverfahren basiert darauf, was Menschen mit niedrigem Einkommen zum Leben ausgeben. Berechnungsgrundlage ist das reale Ausgabeverhalten einer Gruppe von Bürgern, die sich knapp oberhalb des Grundsicherungsniveaus bewegen, der sogenannten Referenzgruppe.
Doch auch das Statistikmodell kommt nicht ohne einschränkende Vorgaben aus. Folglich werden nicht alle Ausgaben der Referenzgruppe in die Berechnungen einbezogen. Eine Steilvorlage für die Kritiker, die von behördlicher Willkür sprechen. Höchst umstritten ist zudem, dass 2010 die Referenzgruppe verkleinert wurde. Sie bestand bis dahin aus den unteren 20 Prozent der einkommensarmen Haushalte, danach nur noch aus 15 Prozent. Das senkt das Durchschnittseinkommen in dieser Gruppe - und damit auch den Regelsatz.
Caritas-Generalsekretär Cremer nennt das "einen eklatanten methodischen Bruch im Statistikverfahren". Man müsse verdeckt Arme bei der Ermittlung der Regelsätze unberücksichtigt lassen. Das rügt auch der Sozialverband VdK Deutschland: "So wird der materielle Mangel, der in der Referenzgruppe schon herrscht, als Maßstab herangezogen", kritisiert Verbandschefin Ulrike Mascher. Die statistische Relevanz des Problems ist unbestritten: Studien der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge verzichtet ein Drittel der Leistungsberechtigten auf ergänzende Hilfen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat jüngst ein Gutachten vorgelegt, das die Schwächen der staatlichen Berechnungen offenlegen will. Die seien "ein Gemisch aus statistischer Willkür und finanzieller Nickeligkeit. Wer hingeht und sogar Cent-Beträge für die chemische Reinigung, Grabschmuck oder Hamsterfutter streicht, hat sich vom Alltag der Menschen längst verabschiedet", moniert Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Er fordert 520 Euro je Monat für einen alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher, was eine Erhöhung gegenüber dem derzeitigen Niveau um 28 Prozent entspricht.
In seiner Expertise kommt der Paritätische zudem zu dem Ergebnis, dass die Berechnungen des Ministeriums zu den Kinderregelsätzen "wissenschaftlich nicht belastbar und extrem fehlerbehaftet" sind. Ergebnis: Auf der vorhandenen Datengrundlage ließen sich seriöserweise keine Kinderregelsätze berechnen.
Etwas unter diesem Forderungsniveau bewegt sich der Deutsche Caritasverband, der für einen um 80 Euro höheren Regelbedarf wirbt. Das wären zum heutigen Zeitpunkt 484 Euro.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hält die Regelsätze zwar ebenfalls für zu niedrig, nennt aber keine exakten Beträge, die nötig wären, um der Armut zu entfliehen. Das liege in der Natur der Sache, betonte ein Sprecher auf Anfrage. Denn auch der DGB lehnt das bestehende Berechnungsverfahren ab, "in dem nur Mangel gemessen wird", sagte der Sprecher. Er regte an, die Regelsätze anhand des tatsächlichen Bedarfs grundlegend neu zu ermitteln und diese Aufgabe einer Sachverständigenkommission zu übertragen.
Auch nach Ansicht des VdK bedarf es einer grundlegenden Reform bei der Ermittlung der Regelsätze, bei der die statistisch gemessenen Ausgaben anhand der tatsächlich notwendigen Kosten überprüft werden. Bislang werde "der materielle Mangel, der in der Referenzgruppe schon herrscht, als Maßstab herangezogen".
Die Diakonie lässt derzeit ein eigenes Gutachten erstellen, das Ende des Monats vorgestellt werden soll. Einem Sprecher zufolge hat es den Anspruch, die "fachlichen Grundlagen der Regelbedarfsermittlung einzuhalten".
Vermutlich wird die Diakonie darin mindestens 550 Euro als Basisregelsatz fordern. In ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Regierung ist bereits zu lesen, dass die behördlichen Berechnungen auf "massiven Kürzungen an den in der statistischen Vergleichsgruppe festgestellten Ausgabepositionen" beruht. Die Summe der Streichungen betrage je Monat rund 147 Euro. Schlägt man diesen Betrag auf den Regelsatz auf, hätten Bedürftige heute 551 Euro, ab 2017 556 Euro zu bekommen.