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Geistig behinderte Testleser prüfen Texte in leichter Sprache




Nicole Papendorf (40) und Oliver Pagel (37) bei ihrer Tätigkeit als geistig behinderte Testleser.
epd-bild/Dieter Sell
Kurze Sätze, keine Fremdwörter und zusammengesetzte Hauptwörter, durch einen Bindestrich getrennt: Von leichter Sprache profitieren Millionen Menschen mit Leseschwierigkeiten. Geistig behinderte Testleser wissen, wie sie formuliert sein muss.

Wort für Wort durchpflügt Nicole Papendorf das Textblatt, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Konzentriert fährt sie mit ihrem Bleistift von Zeile zu Zeile und markiert mit Leuchtstiften die Stellen, die ihrer Auffassung nach einfacher formuliert werden sollten. Bald ist das Blatt bunt. "Ich versetze mich in den Text rein, versuche mir Sachen vorzustellen", sagt Papendorf. Die 40-Jährige ist geistig behindert und Testleserin im "Büro für Leichte Sprache" der Bremer Lebenshilfe.

In ihrer Arbeit orientiert sie sich an der Umgangssprache. So stolpert sie über den Satz: "Mir geht es fantastisch. Wer sagt schon im Gespräch auf der Straße 'fantastisch'?", fragt sie und schlägt vor, einfacher zu formulieren: "Mir geht's toll."

Hilfreiche Arbeit seit zwölf Jahren

Vor zwölf Jahren hat die Bremer Lebenshilfe das "Büro für Leichte Sprache" als erste Einrichtung dieser Art in Deutschland gegründet - Nicole Papendorf arbeitet seit Anbeginn auf einer festen Stelle mit. Seither werden im Auftrag von Behörden, Institutionen und Firmen beispielsweise komplizierte Gesetzestexte, Verträge, Bedienungsanleitungen und Beipackzettel für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung verständlich aufbereitet. Zu den "Rennern" gehören Fußballregeln in leichter Sprache und Bücher mit biblischen Geschichten.

"Leichte Sprache bedeutet, dass ein Text so gestaltet ist, dass möglichst jeder den Inhalt verstehen kann", erläutert die stellvertretende Büroleiterin Anne Wrede (33). Um das sicherzustellen, verlässt kein Text das Büro, der nicht zuvor von Testlesern wie der 40-jährigen Nicole Papendorf geprüft worden ist. Als geistig behinderte Frau kommt sie aus der Gruppe derjenigen, für die die Texte hauptsächlich gedacht sind und weiß genau, worauf es ankommt.

"Lesen kann harte Arbeit sein", weiß Germanistin Wrede. "Manche Menschen müssen sich die Wörter Buchstabe für Buchstabe erarbeiten." Deshalb profitieren nicht nur behinderte Menschen von leichter Sprache. Laut einer Studie der Universität Hamburg sind in Deutschland 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren funktionale Analphabeten, rund 7,5 Millionen Menschen. Sie können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch ganze Texte.

Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglichen

"Leichte Sprache ermöglicht Teilhabe und Selbstbestimmung", verdeutlicht Bremens Landesbehindertenbeauftragter Joachim Steinbrück. Deshalb achten Nicole Papendorf und ihr Kollege Oliver Pagel (37) unter anderem auf kurze Sätze, streichen Fremdwörter und trennen zusammengesetzte Hauptwörter durch einen Bindestrich - falls Übersetzerin Anne Wrede das nicht schon getan hat.

Als Testleser sind sie die Idealbesetzung, weil sie nichts durchgehen lassen. "Menschen ohne Behinderung würden die eine oder andere Schwierigkeit hinnehmen, weil sie sich die Bedeutung unbewusst anders herleiten", meint Wrede. Doch das sei gar nicht gut: "Jede Irritation lenkt vom eigentlichen Inhalt ab und kann bei Menschen mit Leseschwierigkeiten schnell dazu führen, dass sie aussteigen."

Geistig behinderte Menschen als Experten: Auch im diakonischen "Piksl-Labor" in Düsseldorf werden sie eingesetzt. Dort schulen sie Ältere im Umgang mit Computern. "Vereinfachung ist ihre Disziplin", bringt es Projektleiter Tobias Marczinzik auf den Punkt. "Sie haben das Wissen, wie man am besten Hürden umgeht und nutzen das, um ihren Alltag zu meistern."

Aus "Busfahrer" wird "Bus-Fahrer"

Nicole Papendorf macht aus dem "Busfahrer" einen "Bus-Fahrer" und schaut, ob Umlaute oder der Genitiv vermieden werden können, weil sie schwerer zu lesen sind. Wichtig sind ihr Wörter, die genau beschreiben, was gemeint ist: "Öffentlicher Nahverkehr" hätte bei ihr keine Chance und würde durch "Bus und Bahn" ersetzt werden. "Auch die grafische Gestaltung des Textes ist wichtig", ergänzt sie. "Linien zwischen den Absätzen erleichtern mir die Orientierung."

Um das Verständnis noch weiter zu erleichtern, verknüpft das Bremer Büro seine Texte mit Bildern, die wie die Sätze genau unter die Lupe genommen werden. Wöchentlich trifft sich dafür unter Moderation von Anne Wrede eine Gruppe mit "Bildertestern", ebenfalls geistig behinderte Frauen und Männer. Ihnen kommt es auf klare Bildaussagen an, auf kontrastreiche Farben und auf Menschen, die mit eindeutiger Mimik gezeichnet sind. Wenn die Bildergruppe zusammensitzt, sagt Anne Wrede aber nicht, was die Tester sehen sollen. Sie fragt, was sie sehen: "Alles andere wäre Manipulation."

Auch vor dem Hintergrund der Inklusionsdebatte in der Gesellschaft hat sich die leichte Sprache zu einem richtigen Markt entwickelt: Allein in Deutschland gibt es mehr als 100 Büros und viele Selbstständige, die ihre Dienstleistungen anbieten. Seit zehn Jahren arbeiten Einrichtungen aus Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz und Luxemburg in einem Netzwerk zusammen, unter anderem, um einheitliche Regeln zu entwickeln.

"Denn nicht überall, wo leichte Sprache draufsteht, ist sie auch drin", kritisiert Bremens Lebenshilfe-Geschäftsführer Andreas Hoops. Er hat mit anderen zusammen eine Genossenschaft gegründet, um das Thema voranzubringen. So soll es ab 2017 zertifizierte Fortbildungen und ein Prüfsiegel geben. "Entsprechen die Texte den Regeln für leichte Sprache, wurden Bilder verwendet? - danach wollen wir schauen", sagt Hoops. Eine zentrale Bedeutung haben dann wieder Testleser wie Nicole Papendorf. Es ist ein Job mit Zukunft, denn nur Texte, die von ihnen geprüft werden, sollen das Siegel bekommen.

Dieter Sell

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