sozial-Branche

Gastbeitrag

Sozialunternehmen

Die Digitalisierung des Sozialen – eine besondere Herausforderung




Helmut Kreidenweis.
Es gibt viel zu tun, um die Sozialbranche fit zu machen für die wachsenden Herausforderungen der Digitalisierung. Professor Helmut Kreidenweis verweist in seinem Gastbeitrag auf bestehende Schwächen und zeigt als Vorstandsmitglied des Fachverbandes Informationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung FINSOZ auf, wohin der Weg der Nutzung technischer Innovationen künftig führt.

Soziale Arbeit und Pflege sind rein menschliche Tätigkeiten und werden es immer bleiben. Aber was gilt für die Soziale Arbeit und Pflege in zehn Jahren? Wer vor nicht allzu langer Zeit behauptet hätte, dass BMW, Audi & Co. Angst vor Suchmaschinen-Programmierern bekommen und Telefonbauer zu den schärfsten Konkurrenten der Uhrenindustrie werden, wäre belächelt worden.

Fakt ist: Die Digitalisierung entfaltet eine Dynamik, die in der Sozialbranche vielfach noch unterschätzt wird. Dieser Beitrag zeigt aktuelle Entwicklungen auf und stellt Strategien vor, um den digitalen Wandel aktiv zu gestalten.

1. Was ist Digitalisierung und welche Bedeutung hat sie für die Gesellschaft?

Mit Digitalisierung wird ein durch technische Innovationen getriebener Wandel aller gesellschaftlichen Bereiche bezeichnet. Prägendes Merkmal ist der Ersatz oder die Ergänzung menschlicher Denk- und Kommunikationsleistungen sowie komplexer Handlungen durch Computer und Roboter. Auf technologischer Ebene bedeutet Digitalisierung, dass elektronische Systeme Informationen autonom sammeln, bewerten, Entscheidungen treffen und diese umsetzen. Mit dieser neuen Dimension der Technisierung geht einher, dass tradierte Denk- und Handlungsmuster binnen kurzer Zeit ihre Gültigkeit verlieren und sich neue menschliche Verhaltensweisen entwickeln sowie radikal neuartige Geschäftsmodelle entstehen.

2. Was bedeutet diese Entwicklung für soziale Dienste?

Unter Digitalisierung wird oft noch die Nutzung von Office- oder Fachsoftware an Stelle von Papier verstanden. Bei weiterreichenden Technologien gehen viele Verantwortliche davon aus, dass es sich hierbei um Phänomene im Industrie- oder Unterhaltungs-Sektor handelt, von dem personenbezogene Dienstleistungen bestenfalls am Rande betroffen sind. Ursache dieser Fehleinschätzung ist häufig mangelndes Wissen - sowohl über den Stand der Entwicklung in der Informationstechnologie und Robotik als auch über die damit verbundenen Potenziale und Risiken für den Bereich sozialer Dienste.

2.1. Bestehende Geschäftsmodelle und Arbeitsformen werden in Frage gestellt

Die industriegetriebene Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen ermöglicht, dass ein immer breiteres Spektrum an potenziellen Kunden adressiert werden kann. Geschäftsmodelle, die vor diesem Hintergrund entwickelt werden, sind gleichermaßen für Menschen ohne und mit Hilfebedarf geeignet und werden zunehmend in den Wettbewerb zu klassisch sozialwirtschaftlichen Geschäftsmodellen treten. Erste Beispiele dafür sind Essensversorgung und Reinigung. Die Globalisierung und Industrialisierung solcher Services machen es oft möglich, sie deutlich attraktiver anzubieten, als das klassische Träger können.

Ebenso hält die Automatisierungstechnik über leistungsfähige Sensoren zur Erfassung der Vitalfunktionen des Menschen und des Zustandes seiner Umwelt längst Einzug in den Bereich der Sozial- und Gesundheitsdienste. Die zunehmende Verbreitung technischer Assistenzsysteme wird insbesondere das Feld der ambulanten Betreuung von alten Menschen stark beeinflussen.

Nach und nach wird menschliche Arbeit auch bei komplexen Leistungen durch immer mehr Roboter ersetzt. Beispiele wie Kommunikations- und Trinkroboter, Anti-Dekubitus-Betten oder vollautomatisierte Transport- und Verteilsysteme für Wäsche oder Medikamente sind erste Vorboten dieses Trends.

Auch Pflegeroboter, die große Teile der pflegerischen Handarbeit übernehmen, sind bereits in der Erprobung. IT-Systeme sind schon heute in der Lage, Sprache, Töne und bewegte Bilder auf menschenähnliche Weise kontextsensitiv zu erfassen und kommunikative Situationen zu gestalten, die sich kaum mehr von menschlicher Kommunikation unterscheiden lassen. Menschliche Beziehungs- und Betreuungsarbeit, wie sie durch viele klassische Sozialberufe erbracht wird, kann damit perspektivisch durch den humanoiden „Kollegen Roboter“ ergänzt und später vielleicht ersetzt werden.

Treiber dieser Entwicklungen sind internationale Großkonzerne, die ihre Produkte branchenneutral entwickeln und preisgünstig auf den Markt bringen. Die Nutzung solcher Systeme in der Sozialen Arbeit oder Pflege wird lediglich eine Art "Abfallprodukt" sein, ihre ausgeprägte Selbstlernfähigkeit wird den Anpassungsaufwand in Grenzen halten.

2.2. Das Kommunikationsverhalten der Klienten, Angehörigen und Mitarbeiter ändert sich

Soziale Medien wie Facebook oder Twitter haben binnen weniger Jahre das Kommunikationsverhalten ganzer Generationen einschneidend verändert. Wer diese Entwicklungen nicht in die Kommunikation mit seinen Kunden integriert, wird von vielen Menschen kaum mehr wahrgenommen. Klienten und deren persönliches Umfeld kommen bislang kaum als direkte Kommunikationspartner in den elektronischen Medien sozialer Organisationen vor. Bisher genutzte Fachsoftware-Systeme sind isolierte Inseln innerhalb der Organisationen, deren Nutzer ausschließlich Fach- und Verwaltungskräfte sind. Ansätze mit Elementen aus der Social Media Welt, welche die Interaktion mit Angehörigen etwa durch spezielle Apps gewährleisten, sind bislang kaum zu finden. Und wer als Träger seinen Mitarbeitern nicht die aus ihrem Privatleben gewohnten Arbeits- und Kommunikationsmittel zur Verfügung stellt, wird künftig nicht mehr als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen und tut sich im Kampf um die besten Köpfe als Mitarbeiter zunehmend schwer.

2.3. IT-Infrastrukturen und IT-Organisation wandeln sich radikal

Die Sozialbranche hat zwar in den letzten Jahren wahrnehmbar in Informationstechnologie investiert, jedoch bleibt ihre informationstechnische Reife zumeist noch weit hinter den Anforderungen für einen Einstieg in die Digitalisierung zurück. Vielfach wird die Rolle von IT-Abteilungen noch immer als Bereitsteller von Technik definiert. In dieser Rolle ist sie als mitarbeitende oder gar treibende Kraft der Digitalisierung jedoch nur schwer vorstellbar.

Ebenso entwicklungsfähig sind vielfach Standardelemente eines professionellen IT-Betriebes wie Cloud- und Mobile-Computing oder eine serviceorientierte IT-Organisation. Sie sind eine Grundvoraussetzung dafür, um überhaupt in die Welt höherwertigerer IT-Services, wie sie im Rahmen der Digitalisierung benötigt werden, einsteigen zu können. Insbesondere kleinere Sozialträger tun sich zunehmend schwerer, sich diesen Anforderungen zu stellen. Hier ist vermehrt die Verbandsebene gefragt, Beratungs- und Unterstützungsleistungen zu organisieren, wie sie etwa im Qualitäts- oder Finanzmanagement längst selbstverständlich sind.

3. Was ist zu tun?

Die in diesem Abschnitt beschriebenen Aspekte sind an unterschiedliche Akteure adressiert. Nur in ihrem Zusammenwirken können sie mit Blick auf die Anforderungen der Digitalisierung nachhaltige Effekte erzeugen.

3.1. Einrichtungen und Verbände

Spätestens mit der Digitalisierungsdebatte wird Informationstechnologie zu einem strategischen Führungsthema. Leitungskräfte müssen sich an die rasanten Entwicklungen anschlussfähig machen. Es gilt, eine aktiv gestaltende Rolle einzunehmen. Hierzu zählt neben der systematischen Beschaffung und Bewertung relevanter Informationen auch die Berücksichtigung der mit der Digitalisierung verbundenen Chancen, Kunden- und Mitarbeitererwartungen sowie der Gefahren.

Heute müssen die noch vorhandenen Spielräume einer relativ gesicherten Finanzierung genutzt werden, um sich auf die künftigen Herausforderungen eines harten Wettbewerbs mit neuen Konkurrenten einzustellen. Auch die Ausrichtung der bisherigen IT-Strategien und-Abteilungen muss sich radikal wandeln: Klassische IT-Services wie der Betrieb von Servern oder Software kommen zunehmend „aus der Steckdose“. Statt Techniker werden künftig sozialinformatisch ausgebildete Gestalter gebraucht, die Fachlichkeit, Prozesse und IT zusammendenken und neue Service-Konfigurationen gestalten können.

3.2. Ausbildung in Sozialberufen

In den grundständigen Ausbildungen für pflegerische und soziale Berufe muss die Auseinandersetzung mit den Chancen, Grenzen und Gefahren der IT in sozialen Organisationen fester Bestandteil werden. Dazu gehört auch die Vorbereitung der künftigen Mitarbeiter auf die verantwortungsvolle Nutzung berufsrelevanter Software-Systeme. In managementorientierten Ausbildungen muss IT als strategisches Führungsthema sowie die Befähigung künftiger Leitungskräfte zur aktiven Entwicklung neuer Geschäftsmodelle im Vordergrund stehen.

3.3. Politik und Verwaltung

Es ist an der Zeit, die Digitalisierung bei Sozialgesetzgebung und der damit verbundenen Lobbyarbeit der Verbände mitzudenken. Digitale und hybride Leistungen müssen in den Leistungskatalogen künftig adäquat berücksichtigt werden. Die deutsche Kleinstaaterei mit unterschiedlichen Regelungs- und Vergütungssystemen bis hinunter auf die kommunale Ebene ist Gift für innovative Entwicklungen und bremst eine wirtschaftliche Organisation von Sozialdienstleistungen mit Hilfe moderner Technologien aus.

3.4. Anbieter von Branchenlösungen

Auch die Architekturen branchenspezifischer Software-Systeme müssen künftig offener gestaltet sein, um eine Interoperabilität zwischen den Programmen als Basis durchgängig IT-gestützter Geschäftsprozesse zu ermöglichen. Weiterhin müssen sie bestehende und neu aufkommende Technologien des „Internets der Dinge“, wie etwa die Sensorik, integrieren. Die mobile Verfügbarkeit der Systeme muss sich deutlich verbessern.

4. Was tut der IT-Fachverband FINSOZ?

Ziel des Fachverbandes für IT in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung (FINSOZ e.V.) ist es, den Wertbeitrag der Informationstechnologie im Sozialen zu steigern. Der Verband bringt seine Positionen und sein Technologie-, Theorie- und Praxiswissen in die politischen Entscheidungsprozesse ein und regt konkrete Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen politischen und administrativen Handelns an. Er versteht sich als eine verbandsübergreifende Plattform, die sowohl Einrichtungen und Verbände, als auch IT-Anbieter kompetent auf dem Weg in die digitale Welt begleitet und sie dabei unterstützt, ihre Angebote zum Nutzen der Adressaten sozialer Dienstleistungen weiter zu entwickeln.

Dieser Beitrag basiert auf dem im April 2016 veröffentlichten FINSOZ-Positionspapier "Digitalisierung der Sozialwirtschaft". Am 25. November bietet der Fachverband in Berlin eine Diskussionsveranstaltung zum Thema an, zu der Vertreter der Politik, Verbände der Sozialwirtschaft, Vorstände und Geschäftsführer sozialer Organisationen, IT-Leiter und Anbieter von Branchensoftware eingeladen sind, um gemeinsam über Herausforderungen und Lösungsansätzen zu diskutieren.

Helmut Kreidenweis, Professor für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, ist Vorstandsmitglied des Fachverbandes Infomationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung FINSOZ.

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