sozial-Branche

Hartz IV

Initiative "Sanktionsfrei" plant digitale Gegenbehörde zum Jobcenter




Inge Hannemann
Foto: jib collective / Chris Grodotzki
Die Initiative "Sanktionsfrei" sagt den Jobcentern den Kampf an und will mit einem professionellen Beratungs- und Unterstützungsprogramm mehr Hartz-IV-Beziehern zu ihrem Recht verhelfen. Ein Gespräch mit Mitgründerin Inge Hannemann.

Im September soll es losgehen. Derzeit läuft eine Spendensammlung zur Finanzierung der Initiative. Was die Online-Plattform zum Widerstand gegen Sanktionen leisten soll, erklärte Mitgründerin Inge Hannemann im Interview mit Dirk Baas.

epd sozial: Mit Ihrer Initiative "Sanktionsfrei" wollen sie das Hartz-IV-System in eine menschenwürdige Mindestsicherung umbauen. Ist das nicht ein zu ambitioniertes Ziel?

Inge Hannemann: Rosa Luxemburg hat einmal gesagt: 'Die Revolution ist großartig. Alles andere ist Quark.' Ich finde, das passt auch gut zu uns: Um ein Ziel zu erreichen, benötigt es auch manchmal große Gedanken. Warum nicht das derzeitige Sanktionsregime revolutionären und abschaffen?

epd: Sie wollen das System der Sanktionen unterlaufen, indem sie professionelle Unterstützung anbieten.

Hannemann: Wir werden eine digitale Gegenbehörde online stellen, die sich zwischen die Jobcenter und die Betroffenen stellt, um den Leistungsberechtigten Sicherheit zu geben und sie zu ermutigen, vermehrt ihre Rechte durchzusetzen.

epd: Wie genau soll das funktionieren?

Hannemann: Sie erhalten kostenfrei Beratung, Übersetzung der oft schwer verständlichen bürokratischen Schreiben. Und wir liefern Vorschläge für Antwortschreiben sowie Fax-Antworten direkt über die Seite. Auch eine Sofort-Videoberatung mit Rechtsanwälten wird möglich sein. Dabei werden wir all die rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, die 95 Prozent der Betroffenen nicht kennen oder die sich nicht zu nutzen trauen, weil sie von den Jobcentern eingeschüchtert werden.

epd: Wie erklären Sie sich, dass die wenigsten Hilfebezieher für ihre Rechte vor Gericht ziehen?

Hannemann: Zum einen sehen wir den Grund darin, dass viele Betroffene ihre Rechte schlicht nicht kennen. Das ist eine Folge der fehlenden Aufklärungspflicht durch die Jobcenter. Aber es existieren auch Ängste vor weiteren Repressalien durch die Behörden. Dazu kommen schließlich Lethargie und die fehlende finanzielle Unterstützung, wenn es darum geht, zu klagen. Prozesskostenhilfe zu erhalten wird für die Betroffenen immer schwieriger.

epd: Wie genau wollen Sie die Politik zum Umdenken bewegen?

Hannemann: Es zeigt sich bereits, dass sich über die Sozialen Netzwerke eine wachsende Solidarität zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen entwickelt. Die Politik muss erkennen, dass eine Masse durchaus etwas bewegen kann. Der gute Start unserer Kampagne zeigt außerdem, dass die Menschen bereit sind, die Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen über diesen Weg zu unterstützen. Der Kreis derer, die sich aktiv wehren und für dieses Ziel kämpfen wollen, vergrößert sich.

epd: Alle Ihre Leistungen sind für die betroffenen Hilfeempfänger kostenfrei. Wie finanziert sich Ihre Plattform und wo soll das Geld künftig herkommen, wenn Ihre Klientelzahl wächst?

Hannemann: Für jeden gewonnenen Widerspruch und für jede erfolgreiche Klage bezahlt das Jobcenter den Anwälten Geld. Dieses Geld reichen die Anwälte über Servicegebühren an uns weiter. Damit bezahlt das Jobcenter die Abschaffung der Sanktionen selbst.

epd: Bitte erklären Sie genauer, wie ihr Crowdfunding-Modell funktioniert.

Hannemann: Uns ist Unabhängigkeit wichtig. Deshalb bitten wir mit dem Crowdfunding viele Menschen darum, uns mit kleinen Beträgen zu ermöglichen, diesen Widerstand möglich zu machen. Das erzeugt nicht nur eine hohe Legitimation und Motivation, sondern ist für uns gleichzeitig ein Testlauf. Wenn das Crowdfunding erfolgreich ist, wissen wir, dass unsere Idee tatsächlich gebraucht wird. Wir versuchen 150.000 Euro zu sammeln, um die Plattform programmieren und im Herbst starten zu können.

epd: Sie rechnen auch mit Rückvergütungen aus gewonnenen Gerichtsprozessen. Wie kalkulieren Sie diese Einnahmen?

Hannemann: Zunächst müssen wir klarstellen, dass Sanktionsfrei selbst keine Gerichtsverfahren führt. Sondern wird bauen ein bundesweites Netzwerk von engagierten Rechtsanwälten auf, mit denen wir kooperieren und die ebenfalls unsere Serviceleistungen nutzen können. Dafür werden wir eine Vergütung von den Anwälten erhalten. Die konkreten Bedingungen werden wir gemeinsam mit den Juristen festlegen, sobald wir die Crowdfundingsumme erreicht haben.

epd: Sie haben angekündigt, auch die Kosten transparent zu machen, die das von Ihnen kritisierte Sanktionssystem für die öffentliche Hand verursacht. Wie kommen die Verluste für Bund und Länder zustande und wie hoch sind sie?

Hannemann: Um die verhängten Sanktionen vollziehen zu können, werden mindestens zwei Personen in einem Jobcenter gebraucht. Das ist zunächst die Integrationsfachkraft, die die Sanktion in die Wege leitet. Anschließend muss jemand aus der Leistungssachbearbeitung das Prozedere ins System einpflegen. Das führt zu zusätzlichen Personalkosten. Darüber hinaus fallen Portokosten an, die bei über einer Million Sanktionen nicht unterschätzt werden dürfen. Derzeit gehen über 40 Prozent der Widersprüche und Klagen zugunsten der Hilfebezieher aus. Hier fallen Personalkosten in der Rechtsabteilung der Jobcenter sowie Gerichtskosten an, die der Steuerzahler zu tragen hat. Allein die Kosten für das Personal übertreffen die durchschnittliche Sanktionssumme von 109 Euro pro Sanktion um rund 20 Euro.

epd: Sanktionen der Jobcenter führen aus Ihrer Sicht nicht zu positivem Verhalten der Arbeitslosen. Was wäre besser, um das Mitwirken der Hilfebezieher an der Jobsuche zu verbessern?

Hannemann: Zunächst muss es darum gehen, dass die Menschen ohne Angst in ein Jobcenter gehen können. Schon die Androhung von Sanktionen in den Briefen der Behörden führt indes oftmals zu Angst, die das Tun lähmt. Wir fordern, dass die Jobcenter ihre originäre Beratungsaufgabe übernehmen. Dabei gilt es die Stärken und Schwächen der Erwerbslosen zu evaluieren und bei der Jobvermittlung oder dem Suchen von Fortbildungsmaßnahmen passgenau einzusetzen. Die Jobcenter müssen lernen, den Menschen zuzuhören und sich dafür auch die Zeit zu nehmen. Man kann auch von Visionscoaching sprechen.

epd: Sie halten die Mindestsicherung im Hartz-IV-System für deutlich zu niedrig. Welcher Betrag wäre nötig, um eine Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen?

Hannemann: Die Mindestsicherung muss so hoch bemessen sein, dass eine soziokulturelle Teilhabe in der Gesellschaft möglich ist. Dazu sind mindestens 500 Euro im Monat erforderlich, um auch die Preissteigerungen auszugleichen. Weiterhin müssen tatsächlich anfallende Kosten wie Strom und erhöhte Betriebskosten in Zukunft bei der Berechnung voll berücksichtigt werden. Diese Kosten müssen derzeit ebenfalls aus dem Regelsatz beglichen werden. Das wird oft vergessen. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder muss den tatsächlichen Kosten angepasst werden. Mit zehn Euro kann man zwar den Vereinsbeitrag bezahlen, aber für die nötige Ausrüstung wie etwa Fussballschuhe reicht das Geld nicht.

epd: Die Bundesregierung ist mit der Agenda 2010 zufrieden, Deutschland steht in Sachen Arbeitslosigkeit EU-weit an der Spitze. Die Abschaffung von Hartz IV fordert allein die Linkspartei. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu realisieren?

Hannemann: Über das bedingungslose Grundeinkommen wird immer mehr diskutiert, auch in Teilen der Wirtschaft ist die Debatte darüber längst angekommen. Fehlende Arbeitsplätze und die steigende Automatisierung zeigen schon auf, dass ein Umdenken und damit eine andere Form der sozialen Sicherung geschaffen werden müssen. Das Grundeinkommen wird kommen, weil andernfalls das Sozialsystem, das Rentensystem und damit auch die Wirtschaft zusammenbrechen. Erleben wir es vielleicht nicht mehr, so jedoch die nachfolgende Generation.


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