Dresden (epd). Für die Kirche ist es ein Wagnis. "Gratwanderung" nennt es die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. Die evangelische Kirche will Opfer in die Aufarbeitung von Missbrauch in Gemeinden und Diakonie-Einrichtungen einbinden. "Betroffene sind Beteiligte - nicht etwa Zeugen", sagte Fehrs, Sprecherin des Beauftragtenrats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), am 12. November bei der Synodentagung in Dresden. Dort sprach auch erstmals eine Betroffene.
Kerstin Claus macht in ihrer Rede deutlich, dass es für die Kirche ein langer Weg wird und es mindestens beim Thema Entschädigung Auseinandersetzungen geben wird. "Aufarbeitung ist kein Sprint", sagt Claus. Es gehe um eine Änderung der Haltung der Kirche.
Vor einem Jahr hatte die EKD-Synode in Würzburg das Thema Missbrauch prominent auf die Tagesordnung gesetzt. Auch wenn bis dahin in einigen Landeskirchen die Auseinandersetzung längst begonnen hatte, war es für den EKD-Verbund der Startschuss für die Aufklärung - ein später, finden die Opfer.
"Sehr erfreulicher Meilenstein"
Umso emsiger wollte die evangelische Kirche das Thema angehen: Ein Elf-Punkte-Plan wurde beschlossen. Teil davon ist die bereits eingerichtete zentrale Anlaufstelle für Betroffene. Studien zur Aufarbeitung wurden ausgeschrieben. Eine erste systematisierte Zählung begann: 770 Missbrauchsfälle sind bis heute bekannt, 60 Prozent davon in der Diakonie. Geld wurde bereitgestellt - für 2020 erneut 1,3 Millionen Euro.
In Dresden kündigt Fehrs die Gründung eines eigenen Betroffenenbeirats an. Vorbild soll der Betroffenenrat beim Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sein. Das Gremium mit zwölf Mitgliedern soll möglichst im Frühjahr 2020 starten als "kritisches Gegenüber" zur EKD, sagt Fehrs.
Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig begrüßt diesen Beschluss als "sehr erfreulichen Meilenstein". Er sieht Fortschritte bei der evangelischen Kirche, aber auch weiteren Handlungsbedarf - etwa bei der Verständigung über Standards und Kriterien der Aufarbeitung, die er mit der evangelischen Kirche anstrebt. Er habe keinen Zweifel, dass eine solche Vereinbarung mit der katholischen Kirche bis Jahresende gelinge, sagt er vor der Synode. Mit den Protestanten soll sie möglichst Anfang 2020 stehen.
Unterstützung verspricht Rörig bei der Erstellung einer Dunkelfeldstudie, die die EKD auch angehen wollte. Erste wissenschaftliche Rückmeldungen zeigten aber, dass sich die Kirche allein mit der Erforschung des Dunkelfelds in allen gesellschaftlichen Bereichen übernehmen würde. Nun sucht sie Partner. Die Opfer hat sie bei dem Vorhaben an ihrer Seite: "Sexualisierte Gewalt ist ein Grundrisiko in unserer Gesellschaft", sagt Kerstin Claus vor der Synode, heißt: nicht nur in der Kirche.
"Deutungshoheit aufgeben"
Bei Bischöfin Fehrs bedankt sich Claus - und macht zugleich deutlich, dass sie das Engagement der Hamburgerin auch von anderen in der Kirche erwartet. "Stärken Sie sie", ruft sie den Synodalen zu. Persönlich an den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm gewandt fordert sie, aus dem Versprechen, null Toleranz gegenüber Tätern und Mitwissern zu üben, Realität werden zu lassen. Das bedeute auch einen Perspektivwechsel in der Kirche: "Sie müssen Ihre Deutungshoheit aufgeben", appelliert sie an die Kirchenverantwortlichen.
Nur die Opfer könnten entscheiden, wann ihr Leid besser werde, sagt Claus. Individuelle Aufarbeitung sei höchst persönlich. Damit bezieht sie sich auf die heikle Debatte um pauschale Entschädigungsleistungen. Seit dem Herbsttreffen der katholischen Bischöfe stehen dort hohe sechsstellige Summen pro Opfer im Raum. Die evangelische Kirche will keine pauschalen Leistungen. Die Debatte um diese Summen sei eine Verkürzung des Problems, sagt der bayerische Oberkirchenrat Nikolaus Blum in Dresden.
Die Protestanten streben stattdessen individuelle Zahlungen zur Unterstützung der Betroffenen an. Aus dem Elf-Punkte-Plan ist das Thema ausgeklammert. "Das reicht nicht", sagt Claus. Sie fordert ein transparentes und einheitliches Entschädigungssystem. Der Betroffenenbeirat könnte damit schon ein erstes konfliktreiches Thema gefunden haben. Darüber müsse gesprochen werden, sagt Claus. Sie sei zunächst aber dankbar für die Öffnung hin zu den Opfern: "Das ist eine große Leistung für eine Kirche."