Eklatante Defizite in der Ausbildung sozialpädagogischer Fachkräfte sind nach Ansicht der Koblenzer Politikwissenschaftlerin Kathinka Beckmann in hohem Maße verantwortlich dafür, dass Jugendämter in Deutschland Gewalt gegen Kinder immer wieder übersehen. In vielen Hochschulen und Universitäten werde dieses Thema gar nicht oder zu wenig beleuchtet, sagte Beckmann in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das Studium sei eine Breitbandausbildung und decke das gesamte Spektrum der Sozialen Arbeit von Kindern über Senioren bis zur Suchthilfe ab.

Auch deshalb hielten es die Fachkräfte oft nicht für möglich, dass Gewalt und organisierte sexuelle Kriminalität gegen Kinder auch in ihrem eigenen Einzugsbereich vorkomme, sagte die Professorin der Hochschule Koblenz. Sie nähmen Hinweise, wie es sie auch beim mutmaßlich tausendfachen sexuellen Missbrauch von Kindern in Lügde in NRW und in Gifhorn offenbar gegeben habe, gar nicht ernst. "Jeder weiß, dass Fälle wie in Lügde und Gifhorn nur die Spitze des Eisbergs sind. Aber die wenigsten ertragen es, sich das vorzustellen." Es gelte deshalb, eine Haltung dazu zu entwickeln und zu kultivieren.

Auf einem Campingplatz im lippischen Lügde an der Grenze zu Niedersachsen sollen mehr als 30 Kinder jahrelang von drei Männern sexuell missbraucht worden sein. Unter den Opfern war auch das Pflegekind des Hauptverdächtigen. Das örtliche Jugendamt kannte den Mann. In einer Wohngruppe in Gifhorn sollen offenbar ebenfalls über Jahre junge Mädchen missbraucht worden sein. Unter Verdacht steht ein Ehepaar, das die Gruppe über 25 Jahre geleitet hat.

Studie stellt Jugendarbeit schlechtes Zeugnis aus

Beckmann sagte, die Arbeit der Fachkräfte in den Jugendämtern sei verantwortungsvoll und eine große Herausforderung. Sie müssten etwa die aktuelle Gesetzlage parat haben, die Alarmsignale bei Kindern erkennen und bei Hausbesuchen die Familiendynamik durchschauen können. Auch bei Einarbeitung der jeweils neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hapere es gewaltig. Die Wissenschaftlerin hat im vergangenen Jahr eine repräsentative Studie über die Arbeit der 563 Jugendämter in Deutschland vorgelegt.

Ein Drittel der Behörden haben demzufolge gar kein Einarbeitungsmodell. Die übrigen haben zwar eines, bei 56 Prozent von ihnen betrage die Einarbeitungszeit aber weniger als drei Monate: "Danach kann ich gut in einer Cocktailbar arbeiten, aber nicht in einer so verantwortungsvollen Aufgabe", kritisierte Beckmann, die auch Sozialpädagogin ist. In den 1990er Jahren habe es im Anschluss an das Studium noch ein Anerkennungsjahr für Berufsanfänger gegeben. Mit dem Bolognaprozess und der Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen sei das weggefallen.

Aus all diesen Gründen sei die Fluktuation in den Jugendämtern sehr hoch, sagte die Expertin. Das führe zu einem weiteren Hindernis bei der Erkennung von Gewalt gegen Kinder: Nur in 23 Prozent der Fälle wechselt die Zuständigkeit im Laufe des Verfahrens nicht. In 34 Prozent wechselt sie dreimal oder häufiger. Zudem mangele es in den meisten Jugendämtern an ausreichend Personal. Die Zahl der Fälle, für die eine Fachkraft zuständig sei, variiere zwischen den empfohlenen 35 und mehr als 100.

Beckmann bemängelte darüber hinaus das Fehlen bundeseinheitlicher fachlicher Standards für die Arbeit der Jugendämter. Die gebe es weder für die Risiko-Einschätzung beim Thema Gewalt noch für die Vorbereitung und Begleitung von Pflegefamilien. Auch eine Aufsicht für die Jugendämter und Beschwerdestellen existierten nicht.