Matera (epd). Ein Spaziergang durch das italienische Matera ist wie eine Reise in eine vergangene Zeit. Malerisch thront die Höhlenstadt auf einem Hügel über einer Schlucht, umweht von Thymianduft. Das "Bethlehem Italiens" wird sie auch genannt, dabei könnte sie auch das biblische Jerusalem sein: Mel Gibson drehte hier 2004 die "Die Passion Christi", Pier Paolo Pasolini nutzte die Höhlensiedlung in Matera 1964 als Kulisse für seinen Film "Das 1. Evangelium - Matthäus". Damals lebten in Matera noch Bauern und Schafhirten, die er als Komparsen einsetzte.
Materas Geschichte reicht bis in die Jungsteinzeit zurück. 1993 wurden die einstigen Wohnhöhlen im Fels und die knapp 160 Höhlenkirchen - viele mit Fresken bemalt - Unesco-Weltkulturerbe. 2019 nun ist Matera neben dem bulgarischen Plowdiw Europäische Kulturhauptstadt. Am 19. Januar wird das Kulturhauptstadtjahr eröffnet, mit mehr als 2.000 Musikern, die durch die Straßen ziehen.
"Christus kam nur bis Eboli"
Dabei galt die Stadt in der Region Basilikata in Italien lange als Schandfleck, rund 15.000 Menschen lebten unter ärmlichsten Bedingungen in den Höhlen. Das faschistische Regime unter Benito Mussolini verbannte Oppositionelle wie Carlo Levi in das abgelegene Bergstädtchen im damals wie heute unterentwickelten Süditalien. Der Schriftsteller und Arzt entdeckte dort 1936/37 bittere Armut - aber auch eine "wunderschöne, malerische und beeindruckende Stadt".
In "Christus kam nur bis Eboli" - 1945 erschienen und in den 70er Jahren verfilmt - beschreibt Levi das karge Leben von Schafhirten, die mit ihren Tieren in den Kalksteinhöhlen von Matera lebten. Die "Sassi" (Steine) genannten Stadtviertel erinnerten ihn an die Bilder, mit denen Dantes Inferno in seiner Schulzeit illustriert wurde. "Auf dem engen Raum zwischen den Fassaden und dem Abhang verlaufen die Straßen, die gleichzeitig für diejenigen, die oben aus den Wohnungen treten, den Boden bilden, und das Dach für die darunter."
Palmiro Togliatti, einst Chef der Kommunistischen Partei Italiens, hatte bei einem Besuch 1948 keinen romantischen Eindruck. Ihn empörte das Elend der Bewohner: Matera sei "eine nationale Schande". Wenige Jahre später begann die Zwangsumsiedlung der 20.000 Bewohner in Neubauten am Stadtrand.
Mittlerweile können Touristen in Höhlen, die zu Luxusherbergen umgebaut wurden, den Charme der in den Stein gehauenen Behausungen genießen. Noch heute sind Teile des ausgeklügelten Systems zur Gewinnung von Frischwasser mit Zisternen und Klärbecken zu sehen, in denen sich aus dem Erdreich angespülte Erde absetzte. Das Ökosystem zur Wassergewinnung für die unterirdischen Behausungen soll im Kulturhauptstadtjahr als zukunftsweisendes Modell präsentiert werden.
"Wer Arbeit sucht, muss weg"
Bis zur Industrialisierung habe das System gut funktioniert, sagt Pietro Laureano. Der Architekt der Universität Florenz erkannte Anfang der 90er Jahre als einer der ersten die Bedeutung Materas als Beispiel für intelligentes Wassermanagement. Heute untersucht er Möglichkeiten der Wasserversorgung in arabischen und afrikanischen Wüstenregionen.
In den 90ern habe man ihn zunächst ausgelacht, als er sich um eine Anerkennung Materas als Weltkulturerbe bemühte, erinnert sich der Professor. Mit seiner Familie hat er zweitweise selbst in einer Höhlenwohnung gelebt - und erzählt mit schelmischer Freude, wie überrascht die Erzieherinnen waren, als sein Sohn im Kindergarten sein Zuhause malen sollte und eine Höhle zu Papier brachte.
"Ich war froh, umzuziehen", erinnert sich dagegen die Rentnerin Nunzia Adorisio, die 1959 eine Wohnung im Neubauviertel Spine Bianche zugewiesen bekam. "Als ich gerade einen Sohn bekommen hatte, musste mein Mann eines Tages eine Schlange erschlagen, die sich bei uns eingenistet hatte", erzählt die 83-Jährige über den Alltag in einer der Höhlen.
Ihre Enkel können sich kaum vorstellen, dass sie einst ohne fließendes Wasser und mit einer Schüssel anstatt einer Toilette aufwuchs. Weltkulturerbe hin, Europäische Kulturhauptstadt her: "Wer Arbeit sucht, muss weg aus Matera, auch heute noch", sagt die ehemalige Schneiderin.