Sie leben ihren Traum vom Tanzen. Einem Tanzen, das das keinen Unterschied macht zwischen ihnen und professionell ausgebildeten Künstlern. Ricarda Noetzel, Matthieu Bergmiller und Jörg Beese sind tanztalentierte Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung. Vormittags arbeiten sie in den Werkstätten in der Schwarzwaldstadt Lahr, nachmittags absolvieren sie eine Tanzausbildung bei der Tanzkompanie "Szene 2wei" - und trainieren dort mit Profitänzern.

Im Jahr 2009 gründete der Sozialpädagoge und ausgebildete Tänzer Timo Gmeiner gemeinsam mit dem Choreographen und Tänzer William Sánchez H. die inklusive Kompanie in Essen. Derzeit studieren sie ihre neue Produktion "Wanderlust" ein, die sich mit der Zukunft der Natur in Zeiten von Klimawandel und Naturkatastrophen beschäftigt. Premiere des zeitgenössischen Tanzstücks ist am 22. September in Reutlingen, es folgen Aufführungen in Berlin, Hamburg, Essen und Stuttgart.

Wenn die Tänzer kauernd und zitternd ihre Arme reiben, die Körper sich einem imaginären Windsturm entgegenstellen, wird auch den Zuschauern kühl - trotz sommerlicher Außentemperaturen. Die Sprache des Tanzes habe keine Grenzen, sagt Choreograph William Sánchez H.: "Tanz kennt keine Kategorien wie behindert oder nicht behindert." Es sei wichtig, die individuellen Stärken und Perspektiven der Tänzer aufzugreifen. Daher schont der Kolumbianer mit den dunkelbraunen Locken keinen von ihnen.

Denn egal, ob Beeinträchtigung oder nicht: Alle müssen neben Talent auch Disziplin, Ehrgeiz, hohe Konzentrationsfähigkeit und ein gutes Körpergefühl mitbringen. Mit den unterschiedlichen Körpern zu arbeiten, erlaube ihm, noch kreativer zu sein, sagt der 37-jährige Sánchez. Jede Besonderheit biete Möglichkeiten, "die wir auf der Bühne gezielt einsetzen".

Gerade ist die Truppe von einer Studienwoche bei der spanischen "Nationalen Tanzkompanie" in Madrid zurückgekommen. Auch in Lahr wird nicht nur nachmittags drei bis vier Stunden geübt, sondern oft zusätzlich auch vormittags. Normalerweise arbeiten Noetzel, Bergmiller und Beese an den Vormittagen in der Gärtnerei oder der Elektromontage in den Lahrer Werkstätten, dem Kooperationspartner der Kompanie.

Doch gleich zu Beginn zeigten sich die Werkstätten, die zur Johannes-Diakonie Mosbach gehören, offen gegenüber dem ungewöhnlichen Projekt. "Eine solche Zusammenarbeit war auch für uns etwas Neues", sagt Werkstätten-Leiter Erwin Stiegeler. Die große künstlerische und körperliche Leistung seiner Mitarbeiter im sehr modernen und ausdrucksvollen Tanzen sei erstaunlich. Besonders bewundere er, wie die Rollifahrerin Ricarda Noetzel tanze.

Für die 27-Jährige ist es körperlich besonders anstrengend. Da sie ihre Beine kaum benutzen kann, muss sie dies mit den Armen und dem Oberkörper ausgleichen. Sie hat gelernt, aus dem Rollstuhl zu gleiten und sich elegant tänzerisch auf dem Boden zu bewegen: liegend, rollend oder robbend.

"Tanzen macht mir großen Spaß", sagt die junge Frau mit den langen braunen Haaren strahlend. Sie würde ihre Leidenschaft gerne zum Beruf machen. "Ich habe meinen Körper viel besser kennengelernt und traue mir viel mehr zu."

Auch Jörg Beese liebt das Schauspielern und die Bewegung. Wegen des Tanzens zog 25-Jährige extra von Mülheim an der Ruhr in das Schwarzwaldstädtchen. Am liebsten würde er auch seine Arbeitsschuhe, die er vormittags in der Elektromontage trägt, ganz an den Nagel hängen.

Beim Tanzen ließen sich kaum Unterschiede erkennen, erklärt Timo Gmeiner, der pädagogische und künstlerische Leiter der Truppe. Jeder Mensch bringe unterschiedliches Potenzial mit und solle die Möglichkeit bekommen, dies auszubilden, wünscht sich der 34-Jährige.

Die inklusive Tanzkompanie will zeitgenössisches Tanztheater als "Medium und Motor für inklusives Handeln" sehen. Sie ist deutschlandweit tätig, vor allem aber in Essen und in Lahr. Das Projekt wird auch von der "Aktion Mensch" in Bonn gefördert.

"Unser gemeinsames Ziel ist es, Grenzen zu sprengen - seien es diejenigen zwischen Künstler und Zuschauer oder solche, die in den Köpfen der Menschen existieren", sagt Timo Gmeiner. Von den Zuschauern wünscht er sich Offenheit. Die Einteilung in behindert oder nichtbehindert spiele nur anfangs eine Rolle.

Nach der Probe lassen sich die Tänzer erst einmal schwer atmend und erschöpft in verschiedenen Ecken auf den Boden fallen und trinken Wasser. Nach ein paar Minuten setzen sie sich zusammen, reden und lachen. Der enge Zusammenhalt, die Freundschaften, gehen über das gemeinsame Tanzen hinaus. Einige Tänzer leben sogar gemeinsam in einer inklusiven Wohngemeinschaft.