Hanau (epd). „Am 19. Februar kann ich mit niemandem reden“, sagt Serpil Temiz Unvar. Am Abend werde sie Schlaftabletten nehmen. An diesem Abend vor fünf Jahren erschoss ein Mann in Hanau ihren ältesten Sohn Ferhat neben sieben weiteren jungen Männern und einer Frau aus Einwandererfamilien. Trotz der nicht endenden Trauer um ihren Sohn schaffte es die alleinerziehende Mutter, noch im Jahr des Anschlags die Bildungsinitiative Ferhat Unvar zu gründen. „Diese Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein“, sagt sie.
Kraft gebe ihr der Besuch junger Menschen aus ganz Deutschland, sagt Unvar. Diese lassen sich von der Initiative zu Botschaftern gegen Diskriminierung und Rassismus ausbilden. Die Jugendlichen haben in den vergangenen beiden Jahren bundesweit rund 80 Workshops organisiert, vor allem in Schulen. Die Gründerin hat überdies Initiativen für Terroropfer aus mehreren Ländern zusammengebracht. „Ich kann mich auch mit Rassisten treffen“, sagt Unvar. „Ich habe einen Sohn verloren, aber ich hasse nicht.“ Ihre Überzeugung: „Ich glaube an Liebe, sie ist stärker als Hass.“
„Say their names“
Die Initiative ist nicht die einzige von dem Anschlag angestoßene Gründung. Die von antirassistischen Aktivisten gegründete Initiative 19. Februar Hanau habe mit der Parole „Say their names“ (Sagt ihre Namen) die Opfer in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, resümiert der Mitgründer Hagen Kopp. Dadurch hätten die Angehörigen Mut gefasst, öffentlich zu sprechen, zu Medien, auf Gedenkveranstaltungen und vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags.
Einige Angehörige der Opfer träfen sich weiterhin ein- bis zweimal im Monat im Ladenlokal der behördenkritischen Initiative. Eine Ausstellung, Theaterstücke, Filme und Bücher hätten sich mit dem Anschlag, Fehlern von Polizei und Behörden und Alltagsrassismus auseinandergesetzt. „Betroffene können ihre Stimmen erheben, wenn sie sich von Behörden und der Politik im Stich gelassen fühlen“, fasst Kopp die Erfahrung zusammen.
Mehr Ängste unter den Bürgern
In der Hanauer Bürgerschaft gibt es seit dem 19. Februar 2020 mehr Ängste. Das Sicherheitsgefühl habe gelitten, sagt Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD). „Wenn heute ein Hubschrauber über die Stadt fliegt, fragen Bürgerinnen und Bürger innerhalb von Minuten: 'Was ist los?'“ Die Stadt bringe deshalb mehr Polizeipräsenz auf die Straße, verstärke die Jugendarbeit und schule die Verwaltung für einen diskriminierungsfreien Sprachgebrauch. Bis nächstes Jahr richtet Hanau ein „Haus für Demokratie und Vielfalt“ ein. „Es kommt darauf an, dass wir in Toleranz und Respekt mit unserem Nächsten umgehen und nicht denen auf den Leim gehen, die Menschen gegeneinander aufbringen wollen“, betont Kaminsky.
Es sei nicht einfach, über verschiedene Milieus hinweg gemeinsam zu trauern und den Weg zurück ins Leben zu suchen, beobachtet der evangelische Dekan Martin Lückhoff. In der Stadt seien manche der Meinung, die Tat eines psychisch kranken Mannes habe nichts mit der Bürgerschaft zu tun, es müsse ein Schlussstrich gezogen werden. Andere wiederum seien betroffen, dass eine solche Tat in ihrer Stadt möglich war. Manche von ihnen engagierten sich für das Zusammenleben. Unter Einwohnern aus Einwandererfamilien sei zu hören, sie erlebten im Alltag Diskriminierungen. Daher überrasche es sie nicht, dass aus Worten Taten werden.
„Der 19. Februar ist in Hanau immer noch eine Narbe, die schmerzt“, sagt Lückhoff. Es brauche Gespräche, und die evangelische Kirche wolle ein Ort sein, „an dem Kommunikation erfolgt und gelingt“.
Standort eines Mahnmals geklärt
Einen jahrelangen Streit hat die Stadt rechtzeitig vor dem Jahrestag nach vielen Gesprächen ausgeräumt. Die Stadtverordnetenversammlung und die Angehörigenfamilien waren unterschiedlicher Meinung über den Standort eines Mahnmals. Schließlich stimmte im vergangenen November die Mehrheit der Angehörigen für den Vorschlag der Stadt, den Platz vor dem geplanten „Haus für Demokratie und Vielfalt“ bis nächstes Jahr umzugestalten, in „Platz des 19. Februar“ umzubenennen und das Mahnmal dort aufzustellen. So beschloss es am 27. Januar schließlich die Stadtverordnetenversammlung.
Zum Jahrestag wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wieder nach Hanau kommen. Nach einer Gedenkstunde am Hauptfriedhof wird er bei der Gedenkveranstaltung die Hauptrede halten. Daneben werden Angehörige von Opfern sprechen und Lesungen halten. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) übernimmt die Begrüßung und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) das Schlusswort.