Nürnberg (epd). Ein Lichtermeer ziert jeden Abend einen Platz in der Nürnberger Innenstadt. Zum Abendsegen kamen allein am ersten Abend 30.000 Menschen - viele halten dünne Wachskerzen in der Hand, die in der Dunkelheit für meditative Stimmung sorgen. „Meine Zuflucht, Gott, bist du“, singen die Menschen und erholen sich von den aufregenden Debatten des Tages.

Abends friedliches Beisammensein - tagsüber ist der Kirchentag, der am Freitag die Halbzeit erreicht, von den Kriegen und Krisen der Gegenwart geprägt. Krise ist derzeit fast überall: ein russischer Angriffskrieg mitten in Europa, die Klimakrise, die Demokratiekrise - und nicht zuletzt auch die Kirchenkrise in einer säkularen Gesellschaft.

Von Neonazis drangsaliert

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ruft den Menschen bei seiner Bibelarbeit zu, in einer Zeit voller Konflikte brauche es „trotzigen Mut“, damit man in die Zukunft Vertrauen haben könne. Der Kirchentag will aber nicht nur Probleme beschreiben, sondern auch Lösungen aufzeigen.

Doch das ist gar nicht einfach, wie sich etwa bei der Podiumsdiskussion zur Frage „Ist die Demokratie krisenfest?“ zeigt. Es sprechen unter anderem der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, und der Wittenberger Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos). Harbarth sagt eingangs, es brauche eine stärkere „Kultur der Freude“ für die Demokratie.

Kurz darauf erzählt der junge Aktivist Jakob Springfeld, Jahrgang 2002 aus Halle, wie er und seine Freunde unter den Augen von Polizisten nach einer ihrer Aktionen von Neonazis drangsaliert wurden. Dabei habe er große Angst empfunden, berichtet Springfeld, der sich gegen Antifaschismus und für Klimagerechtigkeit einsetzt. Mit seinem Statement zeigt er, dass Freude an der Demokratie auf der Straße schnell umschlägt in körperliche Angst und das gerade bei denen, die sich für eine bessere Zukunft einsetzen.

Zukunftsangst

Ausdruck einer eher abstrakten Zukunftsangst sind die Aktionen der „Letzten Generation“, die am Freitag den Nürnberger Bahnhofsvorplatz lahmlegen. Am späten Vormittag kleben sich acht Aktivsten, darunter bekennende Christen und Kirchentagsteilnehmer, auf zwei Straßen rund um den Vorplatz. Es handele sich um eine symbolische Aktion, sagt die Sprecherin der „Letzten Generation“, Aimée van Baalen, dem epd.

Aus Perspektive der Aktivsten hilft nur ein radikaler politischer Wandel, um die Klimakatastrophe noch aufzuhalten. Dass es auch damit nicht im Handumdrehen klappt, zeigt Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) auf dem Podium „Wer hat's verbockt?“, wo er auf Clara Hinrichs von der „Letzten Generation“ trifft. Frage man die Menschen in Deutschland, ob die Regierung für mehr erneuerbare Energie im Heizungsbereich sorgen solle, sage eine Mehrheit ja. Frage man, ob fossil betriebene Heizungen verboten werden sollen, sage eine Mehrheit nein. Beim konkreten Weg müssten Menschen mitgenommen werden. Er hoffe, dass man in Deutschland „vielleicht wieder auf einem Weg der Lösungsorientierung“ sei, sagte der Minister. Hinrichs fordert als mögliche Lösung einen Bürgerrat, der einen Plan erstellen solle, wie man aus dieser Krise herauskomme.

Soziologin: öffentlichen Druck erhöhen

Dass selbst unter Klimaschützern teils unversöhnlich um den richtigen Weg aus der Krise gestritten wird, macht Habeck klar. Er verurteilt die Aktion der „Letzten Generation“ auf dem Bahnhofsvorplatz. Allgemein sagt er zu den Aktionen der „Letzten Generation“, dieser Protest verhindere eine Mehrheit für Klimaschutz und treibe die Leute weg.

Die Hamburger Soziologin Anita Engels, ebenfalls Teil des Podiums, gibt den Aktivisten hingegen recht. Nur durch massiven Druck - von der Öffentlichkeit auf die Politik, von der Politik auf die Unternehmen - oder „noch besser“ durch rechtliche Vorgaben könnten Fortschritte bei Klimagerechtigkeit und -schutz erreicht werden, sagt sie. Es gelte, den öffentlichen Druck zu erhöhen, auch die Kirchen hätten hier eine große Verantwortung.