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Regierungsbildung

Stimmen zum Koalitionsvertrag



Frankfurt a.M. (epd). Sozialverbände und Krankenkassen äußern sich überwiegend enttäuscht über den am 9. April vorgestellten Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Bei der Rente und der Krankenhausreform machen sie positive Punkte aus, bei Fragen der Begrenzung des Anstiegs von Sozialbeiträgen oder der Pflegereform verweisen sie auf Leerstellen. Pläne zum Bürgergeld stoßen bei den Verbänden auf Ablehnung.

Sozialbeiträge:

Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands: „Echte Entlastungen für die Beitragszahlenden sind perspektivisch nicht erkennbar. Konkrete Maßnahmen zur nachhaltigen Stabilisierung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung sucht man vergeblich. Vor allem die Frage, wann der Bund endlich seiner Verantwortung für die Finanzierung der Gesundheitsversorgung von Bürgergeld-Beziehenden und weiterer versicherungsfremder Leistungen angemessen nachkommt, bleibt weiterhin unbeantwortet.“

Christoph Straub, Vorstandvorsitzender der Krankenkasse Barmer: „Im Koalitionsvertrag fehlen ausgabenbegrenzende Maßnahmen vollständig, zudem sind weder eine Anpassung des Bundeszuschusses an die GKV noch weitere Entlastungen durch vollständig steuerfinanzierte versicherungsfremde Leistungen vorgesehen. (...) Angesichts weiter steigender Beitragssätze sind umgehend greifende ausgabenbegrenzende Maßnahmen der neuen Bundesregierung unerlässlich. Andernfalls droht sich die Beitragssatzspirale in der GKV und der Pflegeversicherung weiterzudrehen.“

Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse: „Weder sieht der Vertrag vor, staatliche Aufgaben endlich wieder gerecht aus der Steuerkasse statt aus dem Beitragstopf zu bezahlen, noch stehen konkrete Maßnahmen zur Kostendämpfung auf der To-Do-Liste der Koalitionäre. Hier muss die Koalition nachlegen. Eine Expertenkommission wird die Beitragsspirale ebenso wenig stoppen wie vage Absichtserklärungen.“

Rente:

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK: „Dass die neue Koalition von CDU/CSU und SPD sich zur Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent und zur Erweiterung der Mütterrente entschlossen hat, wertet der VdK als sehr positiv. Dies sind wichtige Schritte zur Verhinderung von Altersarmut.“

Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands: „Die vorläufige Sicherung des Rentenniveaus und die volle Anerkennung der Mütterrente sind wichtige, aber nicht ausreichende Maßnahmen, um den Anstieg von Altersarmut zu bremsen.“

Pflege:

Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege: „Der Koalitionsvertrag ist für die Altenpflege eine einzige Enttäuschung: kein Wort zur Sicherung der Pflegeheime, kein Wort zur wirtschaftlichen Situation der Einrichtungen und kein Wort zu den immer länger werdenden Wartelisten für einen Pflegeplatz.“

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz: „Pflegebedürftige haben nichts vom schwarz-roten Koalitionsvertrag. Alle brandaktuellen Themen werden an eine Kommission wegdelegiert.“

Barbara Dietrich-Schleicher, Vorsitzende des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland: „Bitter stößt auf, dass die wirtschaftliche Schieflage vieler Einrichtungen und Dienste mit keinem Wort erwähnt wird. (...) Die wirtschaftliche Lage scheint der Politik egal zu sein.“

Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin des Arbeiterwohlfahrt-Bundesverbands: „Die vorgesehenen Maßnahmen ersetzen in keiner Weise die längst überfällige große Reform der Pflegeversicherung hin zu einer solidarisch finanzierten Vollversicherung.“

Armut:

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK: „Die Pläne zum Bürgergeld sind irritierend: Besonders die Wiedereinführung des Vermittlungsvorrangs in den Jobcentern wird nicht helfen, Langzeitarbeitslose langfristig zu qualifizieren. Der Drehtüreffekt ist hier vorprogrammiert.“

Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands: „Die Rückabwicklung des Bürgergeldes, die Wiedereinführung des Vermittlungsvorrangs und die Verschärfung der Sanktionen gehen zu Lasten besonders benachteiligter Menschen.“

Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf: „Der Vertrag enthält viele Absichten, die Hoffnung machen - wie etwa die Bekämpfung der Kinderarmut durch unbürokratische und digitale Zugänge zu Leistungen wie dem Kinderzuschlag und dem Bildungs- und Teilhabepaket. Jetzt kommt es auf die Umsetzung an und wir nehmen die Koalition beim Wort - Kinderarmut muss Priorität haben.“

Rüdiger Schuch, Präsident der Diakonie Deutschland: „Wie die Verteidigung, Straßen und Brücken muss die künftige Bundesregierung jetzt auch den Sozialstaat zukunftsfest machen. (...) Wer in soziale Sicherheit investiert, stärkt damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie.“

Michael Groß, Präsident des Arbeiterwohlfahrt-Bundesverbands: „Wir kritisieren die Abschaffung wesentlicher Bestandteile des Bürgergelds und die Rückkehr zu den Hartz-Gesetzen. Es fehlen deutlichere Signale, um mit einem ‚Sozialen Arbeitsmarkt‘ Menschen die Integration in das Berufsleben zu ermöglichen.“

Inklusion:

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK: Als groben Missstand werte ich, dass die Koalition sich zu keiner Verpflichtung zur Barrierefreiheit (...) entschieden hat. Dass die Ausgleichsabgabe für Schwerbehinderte wieder in Werkstätten und in stationäre Einrichtungen fließen soll, ist eindeutig ein Rückschritt. Hier sollte das Geld direkt für die Inklusion in den ersten Arbeitsmarkt verwendet werden.

Martin Danner, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe: "Die BAG Selbsthilfe begrüßt die Ankündigung der zukünftigen Bundesregierung im Koalitionsvertrag stärker auf Barrierefreiheit im privaten Gewerbe hinwirken zu wollen. (...) Lediglich auf Veränderungen 'hinzuwirken' reicht aber nicht aus, denn Barrierefreiheit darf nicht vom guten Willen einzelner Unternehmen abhängen. Es braucht eine verbindliche gesetzliche Verpflichtung, die private Anbieter endlich in die Pflicht nimmt (...).

Tobias Schmidt, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke: „Die neue Bundesregierung hat in ihrem vorgelegten Koalitionsvertrag zugesagt, den Fachkräftemangel zu bekämpfen und Berufs- sowie Ausbildungsabschlüsse zu fördern. Das ist eine gute Nachricht, eine zügige konkrete Umsetzung ist jetzt nötig. Schwarz-Rot muss vor allem sicherstellen, dass mehr junge Menschen, die aufgrund von Teilhabeeinschränkungen, Sprachbarrieren, psychischen Belastungen oder Lernschwierigkeiten bislang keine betriebliche Ausbildung absolvieren können, durch gezielte Förderung für den allgemeinen Arbeitsmarkt qualifiziert werden.“

Krankenhausreform:

Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands: Eine der wenigen konkreten Zusagen ist, dass der bisher der GKV zugeschriebene Finanzierungsanteil am Krankenhaus-Transformationsfonds aus Mitteln des Sondervermögens Infrastruktur und somit aus Steuermitteln gespeist werden soll.

Christoph Radbruch, Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbands: „Es ist positiv, dass die Politik den Druck aus dem System nimmt und die Einführung neuer Leistungsgruppen an die Ergebnisse der laufenden Evaluation knüpft.“ Ein echter Inflationsausgleich für 2022 und 2023 sei jedoch nicht vorgesehen, lediglich Geld aus dem Sondervermögen für Sofort-Transaktionskosten würden in Aussicht gestellt. „Die angespannte wirtschaftliche Lage der Kliniken wird dadurch nicht substanziell aufgefangen.“

Gerald Gaß, Vorstandvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft: „Positiv ist, dass die dringend notwendigen Mittel zur Deckung der Lücke aus den Jahren 2022 und 2023, die benötigt werden, um die Strukturen zur Gestaltung einer planvollen neuen Krankenhauslandschaft stabilisieren zu können, auch in der Endfassung des Koalitionsvertrages enthalten sind. (...) Besonders kritisch sehen wir die geplante Vorhaltefinanzierung. In der jetzigen Ausprägung hätte sie fatale Auswirkungen und würde zu Engpässen und Wartelisten in der medizinischen Versorgung führen.“