

Hamburg, Celle (epd). Barbara Reindl ist viel beschäftigt. Die Übersetzerin für Leichte und Einfache Sprache blättert sich durch eng bedruckte Wahlbenachrichtigungen und Merkblätter. „Ich muss Kompliziertes einfach machen“, sagt die 62-jährige Hamburgerin. Seit Wochen gibt sie in Norddeutschland Workshops zur Bundestagswahl am 23. Februar und zur Hamburger Bürgerschaftswahl am 2. März. Sie hilft damit Menschen mit Lernschwierigkeiten, seelischen Beeinträchtigungen und fehlenden Sprachkenntnissen, aber auch Assistenzen, die mit Leichter Sprache arbeiten. Reindl: „Ich erkläre zum Beispiel in einfachen Worten, was genau gewählt wird, wie eine Wahl abläuft und was in Wahlbenachrichtigungen steht.“
Ihre Kurse sind ausgebucht. „Viele denken, dass die Wahl etwas ganz Selbstverständliches ist. Das stimmt aber nicht“, sagt die Sprachexpertin. Menschen, die schlecht lesen und schreiben können oder vielleicht nicht in Deutschland geboren wurden, fühlen sich bei Wahlen unsicher. „Das fängt schon bei den farbigen Umschlägen an und der Frage, welcher Zettel wo hineingehört“, sagt die Sprachwissenschaftlerin. Auch Bezeichnungen wie „Versicherung an Eides statt“ seien für sie eher abschreckend. In ihren Workshops baut Reindl eine Wahlkabine auf und spielt die Wahlabläufe ganz praktisch durch. Reindl: „Das gibt Teilnehmenden viel Sicherheit.“
Etwas südlich von Hamburg, in Celle, ist schon ein Wahlraum eingerichtet. Aber nur zu Übungszwecken. Doch Bildungsbegleiterin Karin Mickoleit und Arbeitsgruppenleiterin Kristin Herrmann nehmen ihr Amt als Wahlleiterinnen ernst. Bevor sie Maximilian Schnoor den Stimmzettel überreichen, muss der noch einmal zur Garderobe laufen, um seinen Ausweis aus der Jacke zu holen. „Ganz vergessen“, sagt der 32-Jährige. Doch er ist schnell wieder da, um geschützt von Blicken in der Wahlkabine seine zwei Kreuze zu machen.
Die Wahl, geheim und fast wie in echt, bildet an diesem Tag den Abschluss des Unterrichts in den Räumen der Lobetalarbeit in Celle. Die diakonische Einrichtung für Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung will dabei ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Berufsbildungsbereich und der Holzwerkstatt ermutigen, bei der Bundestagswahl ihr Stimmrecht wahrzunehmen. „Wer von ihnen hat schon mal gewählt?“, fragt die Berufsschullehrerin Regina Dickel und rund die Hälfte der rund 20 Frauen und Männer strecken die Arme hoch.
Thorsten Harms verrät nicht, wem er im Raum 4077 seine Stimme gegeben hat. Für die echte Bundestagswahl steht sein Entschluss aber fest, wie er betont: „Ich habe mich für eine Partei entschieden, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzt“, sagt der Werkstattmitarbeiter. „Niemals würde ich eine rechtsextreme Partei wählen“, fügt der kräftige Mann mit dem Kurzhaarschnitt an. „Man muss sich nur die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen angucken. Dann weiß man, wohin das führen kann.“
Seine Kollegin Petra Gilbert hat auf dem Wahlzettel einen bekannten Namen entdeckt. „Ach, der Henni Otti“, erfindet sie kurzerhand einen Spitznamen für den Celler CDU-Abgeordneten Henning Otte. „Den kenne ich doch“, sagt die 58-Jährige. Als sie im Café der Behinderteneinrichtung gearbeitet habe, sei er dort zu Gast gewesen. Sie fand ihn sympathisch und erwägt, ihm ihre Stimme zu geben. Der direkte Draht, findet sie, kann nicht schaden.
Wer kognitiv eingeschränkt ist oder aus anderen Gründen Schwierigkeiten mit Textverständnis hat, ist bei Wahlen häufig außen vor. Das zeigt beispielsweise die sogenannte Leo-Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018: Demnach können 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. Anke Grotlüschen, Leo-Studienleiterin und Professorin für Lebenslanges Lernen, erklärt: „Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass das Leben mit geringer Literalität mit Ausgrenzungen und großen Unsicherheiten im Alltag verbunden ist. Auch die aktuellen Befunde jüngerer OECD-Studien zeigen, dass die Entwicklung im Bereich Schriftsprachkompetenz eher negativ verläuft.“
Mittlerweile stellt sich die Politik darauf ein. Auf den Internetseiten von SPD, CDU/CSU, FDP, Grünen und Linken finden sich die Wahlprogramme auch in Leichter Sprache, bei der AfD fehlt dieser Service. Woran es hapert, sei die praktische Umsetzung, beobachtet Übersetzerin Reindl: „Viele Menschen wissen nichts von den Angeboten in Leichter Sprache.“ Problematisch findet sie auch die regionalen Unterschiede bei den Wahlunterlagen. Während in Hamburg Anschreiben und Wahlbenachrichtigung in eher einfacher Sprache und übersichtlich gestaltet sind, strotzen die Schreiben im niedersächsischen Uelzen nur so von eng geschriebenen Sätzen mit komplizierten Formulierungen. „Hier gibt es wohl noch wenig Bewusstsein für barrierefreie Sprache“, sagt Reindl, die in Uelzen gleich 30 Teilnehmende im Workshop hatte.
Leichte Sprache nutzt dagegen kurze Sätze und bekannte Wörter. Zusammengesetzte Wörter werden mit Bindestrich getrennt, schwierige Begriffe immer erklärt und Inhalte auf das Wesentliche verknappt. Dabei geht es Reindl in ihren Wahl-Workshops nicht nur um Informationen, sondern auch um politische Teilhabe. Sie möchte den Menschen vermitteln, dass Politik etwas mit ihrem Leben zu tun hat und sie ihr Wahlrecht nutzen sollten. Reindl: „Jede Stimme ist wichtig.“
Während aber Menschen, die lediglich Leseschwierigkeiten haben, prinzipiell seit jeher wählen durften, war das bei Menschen anders, die eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben. Jahrelang kämpften die Bundesvereinigung Lebenshilfe und andere Verbände gegen diesen Ausschluss von damals rund 85.000 Menschen von der politischen Willensbildung. „Jeder, der wählen will, kann sich eine Meinung bilden und muss die Unterstützung erhalten, die sie oder er zum Wählen braucht“, sagt Lebenshilfe-Sprecher Peer Brocke. Anfang 2019 entschied schließlich das Bundesverfassungsgericht, dass der Wahlrechtsausschluss eine Form der Diskriminierung und verfassungswidrig war.
Wie wichtig das Wahlrecht ist, unterstreicht auch der Bildungsbegleiter Michael Morcinek in der Unterrichtsstunde in Celle, die er gemeinsam mit Regina Dickel vorbereitet hat. Warum überhaupt neu gewählt werden muss und wer aktuell im Bundestag vertreten ist, wissen viele hier längst. Sie sind zwischen 18 und Anfang der 60er Jahre alt und alle wahlberechtigt. Doch eine Frau zeigt sich unentschlossen, zur Wahl gehen will sie eher nicht. „Das ist eine freie Entscheidung“, sagt Morcinek. „Aber man sollte sich damit beschäftigen. Wenn ich ihn nicht probiere, weiß ich ja auch nicht, ob Milchreis mir schmeckt“, versucht er einen Vergleich zu ziehen.
Dass es um Fragen geht, die hier alle betreffen, machen Morcinek und Dickel anhand der Parteiprogramme deutlich, die sie, soweit veröffentlicht, auch in Leichter Sprache mitgebracht haben. Einige Parteien wollen sich für Inklusion einsetzen. Eine dafür, dass Menschen mit Behinderung in Zukunft mehr Einkommen oder Vermögen besitzen dürfen, ohne dass ihnen dadurch Sozialleistungen gekürzt werden.
Zu informieren, ohne zu beeinflussen, das haben sich Dickel und Morcinek für diesen Tag vorgenommen. Informationen zur Wahl und den Parteiprogrammen in Leichter Sprache haben unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung und die Lebenshilfe herausgegeben. Ortsvereine der Lebenshilfe organisierten vielfach auch Diskussionsrunden mit Kandidierenden, wie Sprecher Peer Brocke erläutert.
Gemeinsam mit dem Verein „Tadel verpflichtet!“ hat die Lebenshilfe zudem die Broschüre „Demokratie schützen - Gefährliche politische Ideen erkennen“ veröffentlicht, in der sie erläutern, wie rechtspopulistisches Gedankengut zu erkennen ist. Im Unterricht in Celle gibt einer zu erkennen, dass er auch über die AfD mehr erfahren will. „Die grenzen Behinderte aus!“, gibt sein Nachbar zu bedenken. Auch Brocke sagt, die Werte der Lebenshilfe seien mit einer Wahl der AfD nicht vereinbar. Unter anderem spreche sich die Partei gegen Inklusion an Schulen aus. „Sie widerspricht dem Kern unserer Anliegen.“